Der letzte Beweis
04.11.2008
Kapitel 9
Rusty, Mai 2007
Was macht wirklich guten Sex aus? Muss er lange dauern?
Erfinderisch sein? Ist Akrobatik erforderlich? Oder lediglich Intensität? Welchen Maßstab man auch anlegt, der Sex mit Anna ist nicht der tollste meines Lebens - dieser Rang wird ewig Carolyn Polhemus gehören, für die Sex jedes Mal eine schamlose Erstürmung der höchsten Höhen hemmungsloser körperlicher Lust war.
Anna gehört zu einer Generation, für die Sex in erster Linie Spaß bedeutet. Wenn ich zehn Minuten nach ihr an die Hoteltür klopfe, erwartet mich häufig eine amüsante Überraschung: eine Krankenschwester in zehn Zentimeter hohen Fuck-Me-Stöckelschuhen. Ihr Oberkörper mit Frischhaltefolie umwickelt. Ein grüner Pfeil, der zwischen ihren Brüsten nach unten zeigt und knapp über dem Geschlechtsteil in ein V mündet. Die Geschenkschleife, die ihren Bademantel zusammenhielt, unter dem sie nackt war. Aber der Humor lässt mitunter eine mangelnde Tragweite durchblicken, die ich nie empfinde.
Sie ist natürlich sehr viel erfahrener als ich. Anna ist die vierte Frau, mit der ich in den letzten vierzig Jahren geschlafen habe. Ihre »Ziffer«, wie sie es unbekümmert nennt, bleibt ungenannt, aber beiläufigen Bemerkungen kann ich entnehmen, dass ich zahlreiche Vorgänger habe. Daher bin ich beunruhigt, als sich herausstellt, dass sie Schwierigkeiten hat, zum Höhepunkt zu kommen. Mit einer Verneigung vor Tolstoi würde ich sagen, dass alle Männer gleich kommen, aber jede Frau auf ganz eigene Art den Orgasmus erreicht - und Annas Art entzieht sich mir häufig. An manchen Tagen habe ich auch meine eigenen Probleme, was mich schließlich dazu bringt, mich an meinen Arzt wegen der kleinen blauen Pillen zu wenden, die er mir so oft empfohlen hat.
Aber auch wenn das alles Anna und mich gelegentlich wie Kandidaten für ein Lehrvideo wirken lässt, so ist doch jede unserer Begegnungen von einer unausweichlichen und wundersamen Zärtlichkeit durchdrungen. Ich berühre sie, wie man eine heilige Reliquie berühren würde - innig, erfüllt von der Gewissheit, dass meine Sehnsucht und meine Dankbarkeit von meiner Haut ausstrahlen. Und wir haben das, was zu wirklich großartigem Sex immer dazugehört - in unseren schönsten Augenblicken existiert nichts anderes mehr. Meine Scham oder Angst, die Fälle, die mich beschäftigen, meine Sorgen um das Gericht oder meinen Wahlkampf - Anna ist das Einzige, was es in diesem Universum gibt. Es ist ein wunderbares, vollkommenes Vergessen.
Einerlei wie stark Anna behauptet, dass wir nicht über unseren Altersunterschied nachdenken sollten, er ist ständig da, vor allem in den Lücken, die er in unserer Kommunikation aufwirft. Ich habe noch nie einen iPod in der Hand gehabt, und ich weiß nicht, ob etwas gut oder schlecht ist, wenn sie sagt, es sei »irre«. Und sie hat keine Vorstellung von der Welt, die mich geformt hat, keine Erinnerung an die Ermordung Kennedys oder das Leben unter Eisenhower — ganz zu schweigen von den Sechzigerjahren. Das große Verschmelzen der Liebe, das Gefühl, dass sie ich ist und ich sie bin, wird manchmal fragwürdig.
Der Altersunterschied hat auch zur Folge, dass ich zu oft über Nat rede. Ich kann es mir nicht verkneifen, Anna um Rat zu fragen, schließlich ist sie ihm im Leben sehr viel näher, als ich es bin.
»Du machst dir seinetwegen zu viele Gedanken«, sagt sie eines Abends zu mir, als wir uns entspannt in den Armen liegen. Bald wird der Zimmerservice das Abendessen bringen. »Ich kenne eine ganze Reihe Leute, die mit ihm zusammen am Easton studiert haben, und die sagen alle, dass er blitzgescheit ist - du weißt schon, so einer, der im Seminar bloß einmal im Monat den Mund aufmacht, aber dann was von sich gibt, was selbst der Professor noch nie so gesehen hat.«
»Er hat es nicht leicht gehabt. Nat ist ziemlich kompliziert«, sage ich.
Weil wir unsere Kinder lieben und ihr Glück zum Hauptziel unserer Existenz machen, ist es ziemlich belastend, wenn wir sehen, dass sie nicht viel glücklicher sind als wir. Nathaniel Sabich war nach landläufigen Kriterien ein guter Junge. In der Grundschule lernte er fleißig und benahm sich seinen Eltern gegenüber relativ selten aufsässig. Aber das Heranwachsen bereitete ihm ungewöhnlich große Schwierigkeiten. Er war ein ungestümer kleiner Junge, der schlecht still sitzen konnte und immer schon bis zum Ende vorblätterte, wenn ich ihm eine Geschichte vorlas. Als er älter wurde,
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