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Der letzte Beweis

Der letzte Beweis

Titel: Der letzte Beweis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Turow
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geweckt hatte.
    »Der Hunger«, hatte Brand geantwortet. Und er meinte damit nicht die Gegenwart, wie Tommy klar wurde. Die Familie Brand litt Not in einer Nachbarschaft, die sich das nicht mal annähernd vorstellen konnte. Als mittleres Kind wuchs Brand mit dem Gefühl auf, dass nie jemand Zeit für ihn hatte. Seine Mom musste sich auf die Zwillinge konzentrieren, die fünf Jahre jünger waren als Jim. Seine älteren Brüder taten ihr Möglichstes, um die ganze Sippe irgendwie durchzubringen.
    In der Highschool war Brand ein Problemschüler - er schwänzte den Unterricht, trieb sich in Kneipen rum, wo er mit fünfzehn anfing, heimlich Poker zu spielen. Man hätte ihn von der Schule geschmissen, wäre er nicht ein so guter Footballspieler gewesen. Auf dem Spielfeld war er ein Berserker. Aber eben ihr Berserker. Beim Training bescherte er vier oder fünf seiner Mannschaftskameraden und im Spiel wahrscheinlich doppelt so vielen Gegnern ein vorzeitiges Saisonende, aber er war ein Ass und verfehlte fast nie ein Tackling. Man erklärte ihm, er wäre zu klein, um in der Unimannschaft Linebacker zu spielen, aber als er dann an die Uni kam, belehrte er alle Skeptiker eines Besseren. Das gelang ihm ebenso, wie er es hier geschafft hatte, Tommy dazu zu bringen, ihm eine Chance zu geben, nämlich durch reine Willenskraft. Und das wiederum war der Grund, warum Brand so große Stücke auf Tommy hielt. Tommy war der erste Mensch in Jims Leben, der ihm wirklich geholfen hatte, ohne sich selbst einen Vorteil davon zu versprechen. Aber manchmal, wenn die Lage schwierig wurde, tauchte vor allem bei Verhandlungen noch immer der hungrige, zornige Junge auf, der sich nicht gern an die Regeln hielt, weil er glaubte, dass sie von Menschen aufgestellt worden waren, die sich einen Dreck um Leute wie ihn scherten. Früher oder später übernahm dann der Erwachsene wieder die Führung. Brand kam zwar immer wieder zur Vernunft, aber mitunter musste man ihn vorher in den Hintern treten. Und genau das tat Tommy jetzt.
    »Nein«, erwiderte Tommy auf den Vorschlag, etwas durchsickern zu lassen, mit einem gereizten Unterton, der keinen Widerspruch duldete. Er hatte für diese Lektion vor Jahren während des ersten Sabich-Prozesses genug Lehrgeld bezahlt. Deine Aufgabe ist die Strafverfolgung, nicht die Entscheidung von Wahlen. Mach einfach deine Arbeit. Ermittle. Bau eine Anklage auf. Vertritt sie vor Gericht. Die Konsequenzen gehen dich nichts an. »Definitiv nein. Vor der Wahl kommt nichts an die Öffentlichkeit.«
    Brand war unzufrieden. »Außer«, sagte er.
    Bei Jimmy gab es immer ein »außer«. Er überlegte lange und angestrengt, ehe er seinen Boss ansah.
    »Es gibt noch eine andere Möglichkeit«, sagte Brand. »Nämlich diesen Vendetta-Verdacht zu widerlegen.«
    »Und wie?«
    »Indem wir beweisen, dass er vor zwanzig Jahren ungeschoren mit einem Mord davongekommen ist. Dem Oberstaatsanwalt geht es nicht um Rache. Es geht ihm um Gerechtigkeit. Die Bluttests und die Spermaprobe von dem alten Fall müssten bei der Rechtsmedizin doch noch irgendwo auf Eis liegen, oder?«
    Tommy wusste, worauf er hinauswollte, weil er selbst diese Möglichkeit in den letzten zehn Jahren immer wieder mal in Erwägung gezogen hatte, nachdem ihm klar geworden war, dass die DNS eine eindeutige Antwort darauf liefern würde, ob Sabich der Mörder von Carolyn Polhemus war. Natürlich hatte er nie hinreichende Gründe gehabt, um die Tests zu veranlassen.
    »Noch nicht«, sagte er.
    »Wir könnten einen Ex-parte-Gerichtsbeschluss beantragen. Sagen, wir brauchten ihn im Zuge eines Anklageprüfungsverfahrens .«
    »Wenn wir diese Beweismittel aus der Tiefkühlung von McGrath Hall holen«, sagte er, womit er das Polizeipräsidium meinte, wo kein Geheimnis sicher war, »vor allem mit einem Gerichtsbeschluss im Rahmen eines Anklageprüfungsverfahrens, dann erfährt das jeder Cop in der Stadt innerhalb von zwei Stunden, und fünf Minuten später weiß es jeder Reporter. Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, geht das vielleicht auch ohne Gerichtsbeschluss.«
    Brand riss die Augen auf. Das war das erste Mal, dass Tommy sich tatsächlich verraten hatte, zu erkennen gegeben hatte, wie oft er über Rusty nachgedacht hatte - und über die DNS.
    »Noch nicht«, wiederholte Tommy. »Nach der Wahl können wir uns die ganze Sache neu vornehmen.« Brand runzelte die Stirn. »Noch nicht«, sagte Tommy erneut.
     
    Rustys Geburtstag 19.03.2007 - Barbaras Tod 29.09.2008 - Die Wahl

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