Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der letzte Beweis

Der letzte Beweis

Titel: Der letzte Beweis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Turow
Vom Netzwerk:
stellte sich heraus, dass die Ursache seines wilden Bewegungsdrangs eine Art von Angst war, die er immer tiefer und tiefer in sich verschloss.
    Die Therapeuten haben zahllose Erklärungen dafür. Er ist das einzige Kind zweier Einzelkinder und wuchs in einem Treibhaus elterlicher Aufmerksamkeit heran, das durchaus als Beweis dafür dienen könnte, dass man ein Kind zu sehr lieben kann. Dann erlebte er das Trauma meiner Verhaftung und des Prozesses, eine Zeit, in der unsere Familie, ganz gleich wie sehr wir auch den Schein wahrten, über dem Abgrund hing wie eine Filmfigur, die von einer halb eingestürzten Brücke baumelt.
    Die Erklärung, auf die ich am liebsten zurückgreife, ist die, bei der meine Schuld am geringsten ist: Er hat etwas von der depressiven Störung seiner Mutter geerbt. Als er in der Pubertät war, konnte ich zusehen, wie sich die altbekannte dunkle Wolke über ihn legte, erkennbar durch den gleichen grüblerischen Rückzug. Wir machten alles durch, was man so kennt. Zeugnisse mit Einsen und Sechsen. Drogen. Der vielleicht beschämendste Tag meines Lebens war der, als mein Freund Dan Lipranzer, ein Detective, der kurz vor der Pensionierung stand und seinen Ruhestand in Arizona verleben wollte, vor etwa zehn Jahren überraschend in mein Amtszimmer kam. »Die Drogenfahndung hat gestern einen rotznäsigen Jungen aufgegriffen, der auf die Nearing High geht und behauptet, er kauft sein Gras bei dem Sohn eines Richters.«
    Das Gute an der Geschichte war, dass wir Nat damit unter Druck setzen konnten und er schließlich wieder zur Psychotherapie ging. Als er gegen Ende der Collegezeit anfing, Antidepressiva zu nehmen, war das so, als wäre er aus einer Höhle ins Licht getreten. Er begann nach dem Bachelorabschluss ein Philosophiestudium, zog endlich bei uns aus und beschloss dann ohne vorherige Rücksprache mit uns, auf Jura umzusatteln. Da mein Sohn für Barbara und mich das lebende Auffangbecken von vielen Ängsten und Sehnsüchten war, sind wir beide manchmal fast erschrocken darüber, dass er endlich auf eigenen Füßen steht, aber das hat wahrscheinlich auch mit unserem Unbehagen zu tun, weil wir nun miteinander allein gelassen sind.
    »Hast du dich darüber gefreut, dass er Jura studiert?«, fragt Anna.
    »Ich war irgendwie erleichtert. Ich hatte nichts gegen sein Philosophiestudium. Ich hab das durchaus ernst genommen. Aber ich wusste nicht, wohin es führen sollte. Obwohl das nach dem Jurastudium auch nicht viel besser ist. Er möchte gern Juraprofessor werden, aber es wird nicht einfach für ihn werden, gleich nach dem Referendariat eine Unikarriere zu starten, und er scheint keine anderen Ideen zu haben.«
    »Wie wär's mit Model für J. Crew? Dir ist doch wohl klar, wie blendend dein Sohn aussieht, oder?«
    Nat hat das Glück, seiner Mutter zu ähneln, doch in Wahrheit, und das scheine nur ich zu erkennen, geht das, was seine Attraktivität so eindringlich macht, die stechenden blauen Augen und das Universum aus geheimnisumwitterter Traurigkeit, geradewegs auf meinen Vater zurück. Junge Frauen werden von Nats außergewöhnlich gutem Aussehen angezogen wie von einem Leuchtturm, aber er hat immer unnatürlich lange gebraucht, um sich zu binden, und derzeit befindet er sich nach dem katastrophalen Ende seiner vierjährigen Beziehung zu Kat mal wieder auf dem Rückzug.
    »So was hat man ihm sogar mal angeboten. Irgendjemand von einer Agentur hat ihn auf der Straße gesehen. Aber es hat ihn schon immer gestört, wenn Leute über sein Aussehen reden. Er will nicht danach beurteilt werden. Außerdem gibt es bessere Möglichkeiten, leicht zu Geld zu kommen.«
    »Welche denn?«
    »Ihr jungen Leute könntet alle mehr Geld machen, als ihr euch je erträumt habt.«
    »Und wie?«
    »Lernt Tätowierungen entfernen.«
    Sie lacht, wie Anna eben lacht, als wäre Lachen das Einzige, was zählt. Sie windet sich und kichert. Aber das Gespräch über Nat klingt noch in ihr nach, und einige Minuten später stützt sie sich auf einen Ellbogen und sieht mich an.
    »Hast du dir je eine Tochter gewünscht?«, fragt sie.
    Ich starre sie ziemlich lange an. »Ich denke, das ist so eine Frage, die Nat in seinen Collegetagen als >bewusst grenzüberschreitend< bezeichnet hätte.«
    »Du meinst, das geht zu weit?«
    »Ich glaube, das meint er damit.«
    »Ich finde, Grenzen spielen hier keine große Rolle«, sagt sie und deutet mit dem Kinn auf die Wände des Hotelzimmers. »Also, hast du? Dir eine Tochter

Weitere Kostenlose Bücher