Der letzte Beweis
bekommen hatten. Der einzige dunkle Fleck auf seiner Karriere würde weggewischt werden. Aber noch wichtiger war, dass Tommy selbst endlich Gewissheit hätte. Das Schuldgefühl, das seit damals immer noch an ihm nagte, weil er so dumm gewesen war, Nico gegenüber aus der Schule zu plaudern, würde sich auflösen. Er würde im Nachhinein recht bekommen, in seinen eigenen Augen mehr als in allen anderen. Er würde neunundfünfzig Jahre alt sein. Und praktisch neu geboren. Nur Gott konnte ein Leben so von Grund auf neu erschaffen. Tommy wusste das. Er nahm sich einen Moment Zeit, um schon im Voraus ein Dankgebet zu sprechen.
Dann hörte er Brand in sein Büro nebenan poltern und ging sofort rüber. Jim hielt noch seinen Aktenkoffer in der Hand und war erst halb aus dem Mantel, als er überrascht Tommy in der Tür stehen sah. Der hohe Herr im Sklavenquartier. Er starrte ihn einen Moment lang an. Dann lächelte er. Und sagte das, wovon Tommy immer gewusst hatte, dass jemand es irgendwann sagen würde.
Brand sagte: »Er war's.«
TEIL ZWEI
Kapitel 23
Nat, 22. Juni 2009
»Nennen Sie bitte Ihren vollständigen Namen und buchstabieren Sie Ihren Nachnamen fürs Protokoll.« Sandy Stern räuspert sich auf seinem Platz am Walnussholztisch der Verteidigung. Er hat sich angewöhnt, das reflexartig zu tun, ehe er spricht und auch danach, ein schleimiges kleines Rasseln, das sich nie richtig normal anhört. »Rozat K. Sabich. S, A, B, I, C, H.«
»Nennt man Sie auch anders?«
»Rusty.«
Mein Vater in seinem gebügelten blauen Anzug bewahrt im Zeugenstand Haltung und ein gelassenes Auftreten. Ich an seiner Stelle wäre mit den Nerven am Ende, aber in den letzten Monaten hat mein Dad die abgehobene Aura eines Mystikers angenommen. Die meiste Zeit scheint er den Glauben an Ursache und Wirkung verloren zu haben. Dinge passieren einfach. Basta.
»Und dürfen wir Sie Rusty nennen?«, fragt Stern, wobei er elegant den Handrücken hebt, als wäre das vielleicht zu aufdringlich. Nachdem mein Vater die Frage bejaht hat, bittet Stern ihn, den Geschworenen zu erklären, was sein Beruf ist.
»Ich wurde letztes Jahr im November ins Oberste Bundesstaatsgericht gewählt, aber ich habe den Amtseid noch nicht abgelegt.«
»Und warum nicht, Sir?«
»Weil diese Anklage gegen mich erhoben wurde und ich es allen Beteiligten gegenüber fairer fand, den Ausgang dieses Verfahrens abzuwarten. Bis dahin bin ich nach wie vor leitender Richter am Berufungsgericht des dritten Bezirks hier in Kindle County, habe mich aber beurlauben lassen.«
Stern verdeutlicht, dass sowohl das Oberste Gericht als auch das Berufungsgericht sogenannte Revisionsgerichte sind, also über Berufungen entscheiden.
»Würden Sie uns bitte erklären, was es heißt, Richter an einem Revisionsgericht zu sein?«
Mein Dad erläutert die Pflichten des Amtes. Auf der anderen Seite des Saales erhebt sich Tommy Molto, um Einspruch zu erheben, als mein Dad darlegt, dass eine Berufung in einem Strafrechtsprozess den Richtern normalerweise nicht das Recht einräumt, die Sachentscheidung der Geschworenen aufzuheben.
Richter Basil Yee denkt offensichtlich über das Problem nach und wiegt seinen grauen Kopf hin und her. Er kommt aus Ware, im Süden des Staates, und wurde vom Obersten Gericht speziell für diesen Fall berufen, nachdem sich sämtliche Richter am Kammergericht von Kindle County, dessen Entscheidungen mein Vater über ein Jahrzehnt lang routinemäßig geprüft hat, wegen Befangenheit kollektiv geweigert haben, den Vorsitz über die Verhandlung zu übernehmen. Er ist Einwanderer aus Taiwan, der mit elf Jahren nach Ware kam, ein Städtchen mit höchstens zehntausend Einwohnern, wo seine Eltern das einzige Chinarestaurant übernahmen. Richter Yee schreibt fehlerfreies Englisch, aber wenn er spricht, hört man, dass es nicht seine Muttersprache ist. Das liegt zum einen an dem starken Akzent mit den asiatischen Tonsprüngen, zum anderen an seiner Neigung, das Bindegewebe der Sprache zu vernachlässigen - Artikel, Präpositionen, Zustandsverben. Seine eigene Gerichtsschreiberin ist nicht mit in den Norden gekommen, und Jenny Tildens ständige lästige Unterbrechungen, um den Richter zu bitten, er möge das gerade Gesagte buchstabieren, haben ihn noch wortkarger gemacht, als er ohnehin schon ist.
Richter Yee entscheidet für meinen Dad, der daraufhin ziemlich dick aufträgt, genau wie Molto gefürchtet hat, und den Geschworenen eindringlich klarmacht, dass sie das letzte
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