Der letzte Beweis
geht es in unseren Begegnungen um die Probleme meines Vaters, nicht um ihre.
Aber man muss kein Mediziner sein, um zu sehen, dass Stern schwer krank ist. Letztes Jahr wurde ihm ein Teil des linken Lungenflügels entfernt, was damals die Hoffnung weckte, dass die Krankheit sich noch nicht ausgebreitet hatte. Aber in den letzten vier bis fünf Monaten hat er mindestens zwei Chemo- und Bestrahlungstherapien durchgestanden. Hai Marko, ein alter Schulfreund von mir, der jetzt eine chirurgische Facharztausbildung macht, hat spekuliert, dass Stern einen Rückfall erlitten hat, und er fügte in diesem unglaublich unterkühlten Ton hinzu, den sich auch meine Freunde aus dem Jurastudium angewöhnt haben, um zu demonstrieren, dass sie ihre Menschlichkeit zugunsten der Professionalität abgelegt haben, dass Sterns mutmaßliche Lebenserwartung unter einem Jahr liegt. Ich weiß nicht, ob das stimmt, nur dass die Therapien Stern schwer gezeichnet haben. Er leidet unter einem hartnäckigen Husten und Kurzatmigkeit, beides keine Folge des Krebses, sondern Nebenwirkungen der Bestrahlung. Er behauptet, wieder Appetit zu haben, aber im Vorfeld des Prozesses hat er praktisch nichts gegessen, und der Mann, den ich selbst in seinen schlanksten Phasen stets als dicklich wahrgenommen habe, ist jetzt regelrecht mager. Er hat sich keine neue Garderobe zugelegt, und sein Anzug hängt an ihm wie ein Kaftan. Immer wenn er sich hochwuchtet, hat er sichtlich Schmerzen. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, hat er von dem letzten Medikament, einem Second-Line-Wirkstoff, leuchtend roten Ausschlag am ganzen Körper einschließlich des Gesichts bekommen. Von der Geschworenenbank aus muss es aussehen, als hätte er sich auf einer Seite eine große Fuchsie eintätowieren lassen. Die Entzündung kriecht über seine Wange nach oben um das Auge herum bis zu einem einsamen Inselchen oberhalb der Schläfe und weist dann unbarmherzig auf seinen kahlen Schädel.
Richter Yee hat einen Aufschub gewährt, doch trotz Sandys Aussehen haben er und mein Dad beschlossen, keinen weiteren zu beantragen. Sein Verstand ist nach wie vor scharf, und wenn er mit seinen Kräften haushaltet, kann er die körperlichen Strapazen des Prozesses überstehen. Aber Sandys Entscheidung, auf einen Aufschub zu verzichten, kann nur eines bedeuten: Jetzt oder nie.
»Nun, Rusty, Sie wurden als erster Zeuge der Verteidigung in diesem Prozess aufgerufen.«
»Richtig.«
»Sie wissen, dass Sie laut Verfassung der Vereinigten Staaten nicht verpflichtet sind, in Ihrem eigenen Prozess auszusagen.«
»Das weiß ich.«
»Sie haben sich dennoch entschlossen auszusagen.«
»Ja.«
»Und Sie waren die ganze Zeit dabei, während die Anklage ihre Zeugen befragte?«
»Ja.«
»Und Sie haben sie alle gehört? Mr Harnason? Dr. Strack, den Toxikologen? Dr. Gorvetich, den Computerexperten? Alle vierzehn Personen, die von der Anklagevertretung in den Zeugenstand gerufen wurden?«
»Ich hab sie alle gehört.«
»Ihnen ist also bewusst, dass Sie hier beschuldigt werden, Ihre Ehefrau, Barbara Bernstein Sabich, ermordet zu haben?«
»Ja.«
»Haben Sie das getan, Rusty? Mrs Sabich ermordet?«
»Nein.«
»Waren Sie in irgendeiner Weise daran beteiligt, Ihren Tod herbeizuführen?«
»Nein.«
Schon allein der sonderbare Umstand, dass ein ins Oberste Bundesstaatsgericht gewählter Richter zum zweiten Mal des Mordes angeklagt ist, und das auch noch von demselben Staatsanwalt, hat weltweites Presseinteresse geweckt. Jeden Tag stehen Leute vor dem Gerichtssaal Schlange, um einen Platz zu ergattern, und weiter hinten drängen sich in zwei Reihen Gerichtszeichner und Journalisten. Das geballte Interesse der Welt scheint den Saal zu durchdringen, in dem so viele Leute jedes Wort auf die Goldwaage legen und so für eine knisternde Atmosphäre sorgen. Das »Nein« meines Vaters hallt jetzt nach, wie von der Tragweite der Erklärung in der Schwebe gehalten. Alle Blicke ruhen auf Stern, der sich in dem großen Rokoko-Gerichtssaal umschaut und leicht zurückweicht, als würde ihm erst jetzt etwas klar, von dem die besser Informierten wissen, dass er es die ganze Zeit geplant hat.
»Keine weiteren Fragen«, sagt er und wankt mit tödlicher Müdigkeit zurück zu seinem Platz.
Der Prozess meines Vaters ist der erste, bei dem ich von Anfang bis Ende dabei bin. Gerichtsverfahren haben so unglaublich viel vom Leben meines Vaters in Anspruch genommen, als Anklagevertreter und als Richter, und obwohl die ganze
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