Der letzte Beweis
Situation sagenhaft belastend für mich ist, finde ich es gleichzeitig ungemein lehrreich, hier zu sitzen. Endlich sehe ich, was er während der vielen Stunden gemacht hat, die er nicht zu Hause war, und bekomme eine Ahnung, was er daran so verlockend fand. Und obwohl der Gerichtssaal nie das Richtige für mich sein wird, bin ich doch fasziniert von den kleinen Ritualen und Inszenierungen, vor allem den Momenten, die zu banal sind, als dass sie im Fernsehen oder Kino dargestellt werden. Der Augenblick jetzt zum Beispiel, wenn die Seiten wechseln, ein Anwalt sich hinsetzt und der Gegner aufsteht, ist das juristische Äquivalent zu der Zeit zwischen den Innings beim Baseball, ein Moment des Verharrens. Der Computer der Gerichtsschreiberin hört auf zu klackern. Die Geschworenen rutschen auf ihren Plätzen hin und her und kratzen sich, wo's juckt, und die Zuschauer räuspern sich. Papiere schaben über beide Tische, weil die Anwälte ihre Unterlagen sortieren.
Irgendeine Laune des Schicksals wollte es, dass der Prozess meines Vaters in einem der vier älteren Gerichtssäle des Hauptjustizgebäudes stattfindet, wo im obersten Stockwerk auch das Berufungsgericht untergebracht ist. Er kommt jeden Morgen hierher, um sich einer Mordanklage in einem Gebäude zu stellen, in dem er zumindest nominell der höchstrangige Jurist ist, noch dazu gleich neben dem Gerichtssaal, in dem er vor über zwanzig Jahren freigesprochen wurde. Die alten Räumlichkeiten, in denen seit nunmehr siebzig Jahren Kapitalverbrechen verhandelt werden, sind Schmuckstücke einer verspielten Architektur vergangener Tage, mit geschwungenen Walnussholzgeländern, die die Geschworenenbänke abtrennen. Ein solches Geländer verläuft auch vor dem Zeugenstand und vor der wuchtigen Richterbank, wo Richter Yee über dem Gerichtssaal thront. Die Plätze für die Zeugen und den Richter werden durch rote Marmorsäulen hervorgehoben, die einen mit kitschigen Holzkugeln verzierten Baldachin aus Walnussholz tragen.
Unter diesem Überhang sitzt mein Dad nun teilnahmslos und wartet darauf, dass Tommy Molto mit seinem Kreuzverhör beginnt. Zum ersten Mal lässt er seine blauen Augen zu mir herübergleiten, und einen ganz kurzen Moment lang schließt er sie fest. Los geht's, scheint er zu sagen. Der wilde Raketenritt des Lebens, den wir beide seit dem Tod meiner Mutter vor neun Monaten absolviert haben, wird enden, wir können mit dem Fallschirm abspringen und zurück zur Erde schweben, wo wir entweder eine geschrumpfte Version unseres früheren Lebens führen werden oder uns ein neuer Albtraum erwartet, wenn ich mich mit meinem Vater bis ans Ende seiner Tage einmal die Woche durch eine kugelsichere Glasscheibe unterhalte.
Wenn ein Elternteil stirbt - das sagt jeder, daher weiß ich, dass es nicht besonders originell ist —, ändert sich das Leben von Grund auf. Einer der Pole, Nord oder Süd, ist vom Erdball gefegt worden und wird sich nie wieder materialisieren.
Doch mein Leben hatte sich real verändert. Ich war irgendwie viel zu lange Kind geblieben, und dann war ich auf einmal da, wo ich war. Ich war mit Anna zusammen. Meine Mom war tot. Und mein Dad wurde beschuldigt, sie getötet zu haben.
Da das, was meinen Eltern passiert ist, in beiden Fällen so viel schlimmer ist als das, was mir passiert ist, klingt es nicht gut, wenn ich sage, dass ich ein Martyrium durchlebt habe. Aber das habe ich. Natürlich war der plötzliche Verlust meiner Mutter der schlimmste Schlag. Aber die Anklage gegen meinen Dad hat mich in ein Dilemma gestürzt, das sich die meisten Menschen nicht mal ansatzweise vorstellen können. Die längste Zeit meines Lebens stand mein Dad in der Öffentlichkeit, was bedeutete, dass häufig sein Schatten auf mich fiel. Als ich mich entschloss, Jura zu studieren, war mir klar, dass es dadurch nur noch schlimmer werden würde, dass ich immer als Rustys Sohn gelten würde und seine Reputation und seine Leistungen hinter mir herschleifen würden wie bei einer Braut, die nicht weiß, wie sie ihre Schleppe durch eine Drehtür bekommen soll. Aber jetzt ist er nicht mehr berühmt, sondern berüchtigt, eine Figur, die Hass und Spott auf sich zieht. Wenn ich sein Bild im Internet oder im Fernsehen sehe - oder gar auf dem Titelblatt einer Zeitschrift —, hab ich irgendwie das Gefühl, dass er nicht mehr richtig zu mir gehört. Und natürlich weiß keiner, wie er mit mir umgehen oder was er sagen soll. So ähnlich muss das sein, wenn sich herumspricht, dass man
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