Der letzte Beweis
Wort über seine Schuld oder Unschuld haben.
»Sehr gut«, sagt Stern. Er hustet und zieht sich mühsam am Tisch hoch. Sandy hat von Richter Yee die Erlaubnis bekommen, Zeugen im Sitzen zu befragen, wenn er möchte. Es gibt die unglaublichsten Folgeerscheinungen, die die Medizin vielleicht nie wird erklären können, und eine davon ist, dass Sandys Variante des nicht kleinzelligen Lungenkarzinoms bekanntermaßen Arthritis in einem Knie auslöst, weshalb er jetzt humpelt. Marta, seine Tochter und Partnerin in der Kanzlei, sitzt neben ihm und legt reflexartig ihre linke Hand mit den leuchtend lackierten Fingernägeln an den Ellbogen ihres Vaters, um ihm ein wenig hochzuhelfen. Ich habe schon als kleiner Junge von Sandys faszinierender Ausstrahlung im Gerichtssaal gehört. Wie so vieles im Leben entzieht sie sich so ziemlich jedem Erklärungsversuch. Er ist klein - höchstens ein Meter achtundsechzig groß - und offen gestanden ziemlich plump. Auf der Straße würde man Sandy Stern vermutlich gar nicht wahrnehmen. Aber wenn er sich im Gericht erhebt, ist das so, als hätte jemand ein Leuchtfeuer entzündet. Obwohl er vom Krebs gezeichnet ist, hat jedes Wort, jede Bewegung von ihm eine Präzision, die es unmöglich macht, den Blick von ihm abzuwenden.
»Würden Sie uns jetzt ein wenig über sich selbst erzählen, Rusty.« Stern dirigiert meinen Vater durch seinen Lebenslauf. Sohn eines Einwanderers. Collegestipendium. Jurastudium mit zwei Nebenjobs.
»Und nach dem Examen?«, fragt Stern.
»Bekam ich eine Stelle bei der Staatsanwaltschaft von Kindle County.«
»Ist das die Behörde, der Mr Molto heute vorsteht?«
»Richtig. Mr Molto und ich haben beide im Abstand von wenigen Jahren dort angefangen.«
»Einspruch«, sagt Molto leise. Er hat den Blick nicht von dem Block gehoben, auf dem er sich Notizen macht, aber die Anspannung ist ihm am Kinn anzusehen. Er durchschaut, was mein Dad und Stern beabsichtigen, nämlich den Geschworenen in Erinnerung zu rufen, dass mein Dad und Tommy eine gemeinsame Geschichte haben, wenngleich sie das wahrscheinlich schon aus den Zeitungen wissen, die tagtäglich den Prozess von damals in allen Einzelheiten durchkauen. Die Geschworenen schwören jeden Morgen, nichts über den Prozess gelesen oder gehört zu haben, aber Marta und ihr Dad wissen, dass fast immer irgendwas bis ins Geschworenenzimmer vordringt.
Richter Yee sagt: »Ich denke, Thema ist erschöpfend behandelt.«
Die Augen noch immer auf seinen Notizblock geheftet, signalisiert Tommy seine Zufriedenheit mit einem knappen Nicken. Ich kann Tommy Molto mit seinen schlaffen Gesichtszügen und dem Hundeblick besser ertragen, als ich gedacht hatte. Aber sein Erster Staatsanwalt Jim Brand geht mir auf die Nerven. Er gibt sich die meiste Zeit knallhart, aber manchmal auch unglaublich herablassend, und das ist dann noch schlimmer.
Stern lässt meinen Dad seinen Werdegang in ebender Behörde schildern, die jetzt Anklage gegen ihn erhoben hat, bis hin zu seinem Aufstieg auf die Richterbank. In seiner Darstellung werden die erste Anklage und der Prozess nicht erwähnt, genau wie der Richter angeordnet hat. Im Gerichtssaal ist die Chronologie nahtlos und jede Bodenwelle eingeebnet.
»Sind Sie verheiratet, Rusty?«
»Verwitwet. Ich habe meine Frau Barbara vor über achtunddreißig Jahren geheiratet.«
»Kinder?«
»Mein Sohn Nat sitzt da vorne in der ersten Reihe.« Stern blickt sich mit gespielter Neugier um, als hätte er mir nicht genau gesagt, wo ich mich hinsetzen soll. Er ist im Gerichtssaal ein so gewiefter Schauspieler, dass ich zwischendurch schon fast hoffe, auch sein schlechter Gesundheitszustand wäre gespielt, aber ich weiß, dass dem nicht so ist.
Rund ums Gericht werde ich immer wieder von Leuten beiseitegenommen und leise gefragt, wie es Stern geht. Die meisten vermuten, dass jemand, der meinen Vater zweimal in einer Mordanklage verteidigt, ein engerer Freund der Familie sein muss, als es tatsächlich der Fall ist. Ich antworte immer mehr oder weniger das Gleiche. Stern legt den Mut eines Klippenspringers an den Tag, aber wie es wirklich um seinen Gesundheitszustand bestellt ist, weiß ich nicht. Er spricht nicht über seine Krankheit. Marta gibt sich philosophisch, aber ebenso wortkarg, obwohl zwischen uns beiden, die wir als Kinder lokaler Juristenprominenz in die Fußstapfen unserer Väter getreten sind, eine fast spontane Verbundenheit besteht. Vater und Tochter Stern sind ungemein professionell.
Im Augenblick
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