Der Letzte Bus Nach Woodstock
Schwärze. Der Mond ließ sich hinter den düster aufgetürmten Wolkengebirgen nur erahnen. Aus den vorderen Zimmern der Häuser drang durch die zugezogenen Vorhänge der fahl-bläuliche Schein der Fernsehgeräte. Hinter einigen Scheiben bildeten schwache Lampen kleine Lichtinseln. Einem Haus galt sein besonderes Interesse. Er spähte im Vorbeifahren zu dem Fenster über der Haustür. Es war dunkel, und er setzte seinen Weg fort.
Kapitel 25 – Dienstag, 19. Oktober, vormittags
Morse verbrachte eine unruhige Nacht und hatte beim Aufwachen starke Kopfschmerzen. Der Gedanke an Margaret Crowthers Selbstmord verfolgte ihn. Warum hatte sie das getan? War Selbstmord nun feige Flucht oder, im Gegenteil, so etwas wie ein negativer Akt des Mutes, der innere Größe verriet? Nein, dachte Morse, des Mutes wohl doch nicht. Es gab immer andere, die darunter zu leiden hatten. Die Last des Lebens wurde ja durch den Selbstmord nicht endgültig abgesetzt, sie mußte von denen, die zurückblieben, weiter getragen werden. Zusätzlich.
Es war schon halb zehn, als er im Präsidium eintraf und in gedrückter Stimmung an seinem Schreibtisch Platz nahm. Er rief Lewis an und bat ihn, herüberzukommen. Der Sergeant betrat das Zimmer mit etwas gemischten Gefühlen, doch Morse schien sich gar nicht mehr daran zu erinnern, was gestern zwischen ihnen vorgefallen war. Er berichtete Lewis von Margaret Crowthers Selbstmord und daß Bernard ihn habe sprechen wollen, dies sei jedoch wegen seines Zustands nicht möglich gewesen.
»Glauben Sie, daß wir jetzt etwas von ihm erfahren werden, Sir?«
Er erhielt keine Antwort, denn in diesem Moment klopfte es an der Tür, und ein junges Mädchen brachte die Post herein. Sie grüßte mit einem freundlichen »Guten Morgen!« und war auch schon wieder verschwunden. Morse sah die Briefe flüchtig durch. Einer trug neben seinem Namen den Vermerk Persönlich . Genau solch einen Umschlag hatte er gestern abend in Händen gehalten. Der Brief mußte von Margaret Crowther sein.
»Anscheinend hat nicht nur Mr. Crowther mir etwas mitzuteilen«, sagte er. »Hier ist ein Brief von seiner Frau.« Er schlitzte ihn auf, entnahm ihm drei eng betippte Bogen und begann vorzulesen:
Sehr geehrter Inspector Morse,
ich kenne Sie zwar nicht persönlich, aber ich weiß aus der Zeitung, daß Sie mit den Ermittlungen wegen des Todes von Sylvia Kaye betraut sind. Es wäre besser gewesen, ich hätte mich schon früher bei Ihnen gemeldet, aber ich hoffe, daß es auch jetzt noch nicht zu spät ist. Ich wende mich an Sie, um ein Geständnis abzulegen: Ich habe Sylvia Kaye ermordet.
Sicher erwarten Sie, daß ich Ihnen jetzt Genaueres über die näheren Umstände der Tat berichte. Bitte verzeihen Sie mir, wenn mein Brief etwas konfus klingen sollte – für mich ist es, als liege das alles schon eine Ewigkeit zurück, und ich habe Mühe, mich auf Einzelheiten zu besinnen.
Seit einem halben Jahr – vielleicht sogar schon länger – habe ich gespürt, daß mein Mann sich heimlich mit einer anderen Frau traf. So etwas kann man in einer Ehe wahrscheinlich kaum voreinander verbergen. Bernard und ich sind jetzt fast fünfzehn Jahre miteinander verheiratet, und ich kenne ihn so gut wie mich selbst. Es war ihm bei allem, was er gesagt und getan hat, anzumerken. Ich glaube, es hat ihn schrecklich belastet.
Am 22. September verließ ich – wie immer mittwochs – gegen halb sieben das Haus. Normalerweise habe ich an diesem Abend einen Volkshochschulkurs, aber diesmal machte ich mich nicht wie sonst auf den Weg nach Headington Hill, sondern stellte mich mit meinem Auto an eine Ecke der Banbury Road. Ich saß und wartete, und obwohl mir mein Vorhaben auf einmal ganz unsinnig erschien, konnte ich aus irgendeinem Grund doch nicht davon ablassen. Um Viertel vor sieben sah ich, wie der Wagen meines Mannes aus der Charlton Road in die Banbury Road einbog – jedoch nicht stadteinwärts, sondern nach Norden, in Richtung auf den Kreisverkehr. Ich fuhr ihm nach. Es war ziemlich schwierig für mich. Ich bin keine sehr geübte Fahrerin, und außerdem wurde es allmählich dunkel. Zum Glück herrschte wenig Verkehr. Ich sah zu, daß ich immer drei oder vier Wagen hinter ihm blieb. Am Kreisverkehr nahm er die Sutherland Road und folgte ihr bis zum nächsten Kreisverkehr, den er in Richtung Woodstock verließ. Die A 34 war frei, und er fuhr mit hoher Geschwindigkeit. Ich bin – wie ich schon sagte – nicht sehr geübt, und schnelles Fahren
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