Der letzte Code - ein Roman über die Geschichte der Zivilisation
Hauptrolle und ganz besonders die Pferde. Sie wurden immer wieder in rötlichem Ocker mit Umrissen aus schwarzer Kohle, mit schwarzen Mähnen und bebenden Nüstern dargestellt. Ihre Körper wurden in vollem Lauf gezeichnet. Sonne, Mond, Sterne, Wolken, Werkzeuge, Behausungen – nichts von alldem zeigt sich in diesen Steinzeit-Malereien. Und so gut wie keine Menschen. Wenn überhaupt einer auftaucht auf den Felswänden, dann ist er achtlos hingeworfen im Punkt-Punkt-Komma-Strich-Verfahren. Warum? Standen die Tiere den Geistern und Göttern näher? Waren die Menschen und ihr Alltagsleben nicht heilig genug, um gezeigt zu werden? //
Ein Zeichen aus der anderen Welt
Lakti hatte sich eine vor den anderen verborgene Ecke ausgesucht. Für das, was er jetzt tun wollte, brauchte er keine Beobachter, keine Fragen, keine dummen Bemerkungen seiner Mitschüler. Er hatte sich die Farbe, die er brauchte, mit dem dunklen Ocker angemischt, dazu das Schwarz des Holzkohlestifts aus Wacholder bereitgelegt. Er versuchte, das Bild mit dem feinen Pinsel zu zeichnen, dann mit dem dickeren Weidenast die Umrisse zu erfassen.
Es gelang nicht. Er war ärgerlich. „Zu schwach, das trifft sie nicht, das ist ein anderes Gesicht. Ich brauche mehr Farbe, es muss ein einziger Strich sein, ich weiß genau, wie er verlaufen muss.“
Ein Strich, ohne abzusetzen. Er konzentrierte sich mit aller Kraft darauf. Plötzlich fühlte er das kühle Aluminium einer Spraydose in seiner Hand. Das war das Zeichen aus der anderen Welt!
Er brauchte kein Licht, er brauchte keine Vorlage, das Bild hatte er deutlich im Kopf, als stünde Mond vor ihm: wie sie mit der Hand ihr Haar zusammennahm, damit die Stelle, diese Rundung von der Schulter zum Ansatz des Halses, frei wurde, auf die er seine vierblü-tige Blume gezeichnet hatte.
Ihr Gesicht im Halbprofil, der Schwung ihrer Haare, die seitliche Neigung des Kopfes. Der Künstler arbeitete schnell und konzentriert. Es war still, bis auf das leise Zischen der gesprayten schwarzen Farbe. Er sah sie vor sich, ihre Augen, ihren Mund, den er geküsst hatte. Er spürte die Berührung ihrer Fingerspitzen. Wie lange hatte er gearbeitet? 1 000 Herzschläge, eine Million? Die Zeit war nicht wichtig. „Mein Mondmädchen!“, flüsterte er. Die leere Spraydose steckte er in einen Felsspalt.
„Dank ihr Götter, dass ihr unsere Gabe annehmt!“, rief Sano und begann, wieder die Flöte zu spielen. Die Schüler bewegten sich im rituellen Tanz an den bemalten Wänden entlang. Ihre Schatten glitten über all die heiligen Tiere hin, die sie als Huldigung für ihre Gottheiten, für die Herrscher des Windes, des Eises, für die Götter aller Jahreszeiten, die ihnen die Beute schickten, gemalt hatten.
„Wir bitten euch, oh ihr Götter,
um den Schutz der Frauen und Kinder,
wir bitten um Kraft und Abwehr
gegen die Gefahren der Welt.
Wir erbitten euren Schutz für alle,
die nach uns kommen werden,
um euch anzurufen!“
Sie packten ihre Sachen in die Felltaschen und brachen auf. Die Gruppe musste sich beeilen, denn der Vorrat an Fackeln war bis auf eine aufgebraucht. Als sie mit raschen Schritten den großen zentralen Raum durcheilten, erschütterte ein Beben den Boden.
„Beunruhigt euch nicht“, sagte Sano, „das geschieht nicht selten in diesem Gebirge. Manchmal werden die Mächte ungeduldig und wünschen keine Störung.“
„Und wenn der Ort nun verschüttet wird, abgeschnitten auf immer?“, fragte sich Lakti. Er war überhaupt nicht beunruhigt. Dann soll es so sein, dachte er in schnellem Lauf. Ihr Bild bleibt dort, auf immer.
NOCH NIE ERBLICKTE EIN MENSCHENAUGE DAS MÄDCHENPORTRÄT
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Die Spraydose befindet sich auch nach 30 000 Jahren noch in der Felsspalte tief im Inneren einer Höhle in Südfrankreich. Und noch nie erblickte ein Menschenauge das wunderbare Mädchenporträt in einer Nische jener Höhle. Unentdeckt blieb sie bis heute, genau wie all die Bilder, die der Schamane Sano und seine drei Schüler an jenem Tag zu Ehren der Götter gemalt hatten. Ein gewaltiger Felssturz, wie er sich in jenen Gegenden seit Millionen von Jahren immer wieder ereignete, verschüttete vor 20 000 Jahren den Eingang.
Level 4
In Frieden leben
//etwa 2500 Jahre v. chr.//
Reale Zeit: Dienstag, 26. Oktober, 21.00 Uhr
Realer Ort: Tamas’ Keller
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Virtuelle Zeit: etwa 2500 Jahre v. chr.
Virtueller Ort: das Land zwischen den Flüssen
Euphrat und Tigris, heutiger Irak
Das ist nichts
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