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Der letzte Elf

Titel: Der letzte Elf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvana DeMari Silvana De Mari
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war, denen auf der Zugbrücke, denen hinter der Zugbrücke und denen, die auf den Straßen patrouillierten. Dann würde er zur Südwand des alten Gerichtsgebäudes gelangen und die Prophezeiung lesen.
    Mit gleichgültiger Miene steuerte Yorsch auf die Zugbrücke zu. Eine der Lagen seines umständlichen weißen Kleides hatte er wie eine Kapuze über den Kopf gezogen, sodass er die spitzen Ohren und die zu hellen Haare verbergen konnte. Sein Herz schlug rasend schnell. Seit Jahren lebte er völlig abgeschieden in einer Bibliothek auf den Höhen eines unzugänglichen Gebirges, nur mit einem Drachen als Gesellschaft. Schon allein die Gegenwart einer so großen Anzahl von menschlichen Wesen beunruhigte ihn. Dazu kam noch die Angst, angegriffen zu werden, die Hoffnung, seinem Schicksal auf die Spur zu kommen, die Erinnerung an Monser und Sajra, die ihn beständig mit Sehnsucht quälte. Nur wenige Schritte vor dem Fallgitter wurden die Bewohner auf ihn aufmerksam. Alle unterbrachen ihre Tätigkeiten: Die plauderten, verstummten, die über die Brücke gingen, blieben stehen, die beiden Verkäufer von Äpfeln beziehungsweise Kohl stellten sofort ihr Geschrei zum Anpreisen ihrer Waren ein und sahen sich nach ihm um. Das Wort »Elf« tauchte jedoch nicht auf. Alle brachen bloß in schallendes Gelächter aus. Ein Grüppchen zerlumpter Jungs, befehligt von einem Bandenführer mit unglaublichen Segelohren, tauchte plötzlich auf und begann, ihn zu verspotten. Alle redeten auf einmal und Yorsch konnte nichts verstehen, aber wieder vernahm er nicht das Wort »Elf«. Was wollten sie also von ihm?
    Ein paar Steine flogen, trafen ihn aber nicht. Wenn er die Flugbahn des Steins genau beobachtete, konnte Yorsch ihm rechtzeitig ausweichen. Nach einem Augenblick der Angst begriff er, wie es ging, und hatte auch seinen Spaß daran. Einem der Wachsoldaten am Tor wurde es zu bunt und nach ein paar groben Schimpfworten hörten die Steinwürfe auf und es trat auch eine gewisse Ruhe ein. Der Mann war groß und mager und trug einen großen grauen Bart. Er wandte sich zu Yorsch um und machte ihm Zeichen, er solle ihm folgen, wahrscheinlich, um einen Vorgesetzten zu suchen und um Rat zu fragen. Der Junge betrat die Stadt im Gefolge des Mannes, was ihn vor weiteren Angriffen schützte. Daligar kam ihm, der jahrelang in den Räumen einer Bibliothek eingeschlossen gewesen war, riesengroß vor, und wie als Kind überwältigte es ihn. Es war voll enormer Paläste mit antiken Säulen und Bögen, die sich überschnitten und den Himmel in merkwürdig geometrische Segmente aufteilten. Viele der Bögen waren beschädigt, die Wölbungen halb eingestürzt. In einigen der alten Paläste waren Lazarette untergebracht oder armselige Märkte, wo vor wackligen Verkaufsständen die Kunden in Reih und Glied anstanden, um einen Kohlkopf oder ein paar Äpfel zu erstehen. Ein unerträglicher Gestank herrschte überall; der Duft von Jasmin, der die abbröckelnden Mauern üppig überwucherte, mischte sich unter den überall stagnierenden Fäulnisgeruch. Yorsch fragte sich, wieso am Ende des Herbstes der Jasmin noch blühte.
    Er erkannte das Kopfsteinpflaster der Stadt wieder, die Fassaden der spitzgiebligen Häuser in Pastellfarben mit den Fensterläden, die alle in Dunkelrot und Dunkelgrün in diagonalen Streifen gestrichen waren, sodass sich im geschlossenen Zustand ein Rhombenmuster bildete. Aber jetzt war alles abgeblättert, und es gab auch keine Geranien mehr an den Fenstern wie damals, als er als Kind hier gewesen war. Sie kamen an einem Brunnen vorbei, darüber die hölzerne Statue eines aufgerichteten Bären, der aber keinen Kopf mehr hatte, während das Brunnenwasser ein stinkendes Rinnsal war. Vor ihnen erhob sich eine sehr hohe Mauer aus behauenem Stein, der sich mit Ziegeln abwechselte, in deren Ritzen winzige Farnpflanzen und winzige rosa Blümchen wuchsen. Das war der Palast des Verwaltungsrichters, der dann überging ins Gerichtsgebäude, wo auch das Gefängnis lag. Vielleicht war er am richtigen Ort angelangt, um Nachricht von seiner menschlichen Familie zu bekommen.
    Der Palast thronte über der Stadt. Der Grundriss war ein asymmetrisches Vieleck, dessen genaue Form nicht erkennbar war. Es gab keine Türme, ein Teil war einfach höher als der andere, was dem Ganzen ein schiefes und unvollendetes Aussehen verlieh, ein Mittelding zwischen etwas Halbfertigem und etwas, was schon anfängt zu verfallen.
    Im Unterschied zum Daligar seiner Erinnerung gab es

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