Der letzte Elf
nicht angezeigt, ihn noch zu vermehren.
Das also war die Tochter des Verwaltungsrichters? Ein Grund mehr, sich im Garten nicht erwischen zu lassen. Von der anderen Seite erklang nach wie vor das Geschrei mit dem Wort »Elf« darin. Yorsch überlegte: Wenn die nördliche Mauer, die er eben überstiegen hatte, auf die Hauptstraße ging, müsste die gegenüberliegende, südliche, auf den Fluss gehen. Zu spät! Das Gartentor war geöffnet worden, und Dutzende Soldaten stürmten herein, während das Mädchen unter lautem Geschrei in Richtung auf ein von Rosen überwuchertes Gebäude am hinteren Ende floh. Auch die Rosen blühten. Yorsch fragte sich, ob das kleinere Mädchen jetzt auf die Schaukel gehen konnte.
Das Problem war, den Garten zu durchqueren. Yorsch kletterte wieder auf die Mauer hinauf und versuchte, dort oben weiterzukommen, aber er blieb mit einem Fuß in einem Glyzinienzweig hängen und fiel auf die Hauptstraße zurück. Die Soldaten waren weniger geworden, weil die meisten jetzt im Garten waren, aber die Lausejungs waren mehr geworden. Ein dichter Steinhagel brach über ihn herein. Immer mehr Steine trafen Yorsch. Seine Stirn fing an zu bluten und sein weißes Kleid tränkte sich mit Blut. Er versuchte davonzulaufen. Er lief, wie Elfen das tun, indem er sich vorstellte, ein Adler im Sturzflug zu sein. Es fehlte nur wenig und er hätte seine Verfolger abgehängt, aber er stolperte über sein bauschiges Kleid und fiel der Länge nach hin. Er konnte sich noch einmal aufraffen und sich in den oberen Teil der Stadt schleppen, wo sich die Hütten, dicht aneinandergedrängt, in den Hang krallten, überwuchert von Kapernpflanzen und einigen dürftigen Rebstöcken mit ein paar spärlichen Trauben daran. Die Häuser waren aus Lehm und Baumrinde, Morast bedeckte die Straßen, unterbrochen von Rinnsalen und Pfützen, die miteinander verbunden ein durchgehendes Netz von stehendem schmutzigem Wasser bildeten, in dem sich der Himmel und das Weiß der Wolken spiegelten. Auf den Straßen balgten sich verlassene Kinder mit streunenden Hunden im Schlamm und machten einander Kohlstrünke und Apfelbutzen streitig. Niemand von ihnen ließ sich ablenken, weder um ihn zu verhöhnen noch um ihn zu verfolgen. Yorsch rannte durch sehr enge Gässchen, wo eine Person nur mit Mühe hindurchpasste, die sich abwechselnd mit schiefen Treppen den Berg hinaufzogen. Keiner der armseligen Einwohner, denen er begegnete - eine völlig krumme Frau, ein hinkender junger Mann, der sich auf eine grobe Krücke stützte, und eine Frau mit einem Kind an der Hand -, unternahm etwas, um ihn aufzuhalten, im Gegenteil, sie drückten sich gegen die Häuserwände, um ihn vorbeizulassen, wodurch sie dann aber den Soldaten in den Weg kamen. Er ahnte, dass er es hier wohl mit der unverbrüchlichen Solidarität zu tun hatte, die in dieser Gegend offenbar jeder genoss, der mit der Justiz des Verwaltungsrichters Probleme hatte. Yorsch gelang es, seine Verfolger abzuschütteln und so weit hinter sich zu lassen, dass er eine kleine Ebene oberhalb des Flusses erreichte. Von dort aus konnte er Erbrow sehen. Und der Drache konnte ihn sehen.
Die Welt wurde grün. Aus Triumphgeheul wurden Schreckensschreie. Erbrow der Jüngere war gekommen, ihn zu retten. Der Drache landete. Ein Brüllen und eine Feuerzunge durchschnitten die Luft. Erbrow wendete auf der Ebene und Yorsch stieg auf seinen Rücken, dann flogen sie über die verschreckte Stadt bis zum südlichen Tor. Yorsch erkannte den Bogengang und die Treppe wieder; er fand den Bogen mit der Prophezeiung. Der Drache flog auf halber Höhe und zog langsam Kreise, damit er Zeit hatte, zu schauen und zu lesen. Die Prophezeiung war nicht mehr da: Sie war weggemeißelt worden. Daran bestand kein Zweifel, denn die Spuren eines ungelenk geführten Meißels waren kreuz und quer im Stein noch zu erkennen.
Einer der Soldaten erholte sich von dem Schrecken, spannte einen Pfeil in seinen Bogen und zielte. Erbrow zuckte zusammen, und Blut begann, aus seiner Brust zu fließen. Yorsch begriff, warum von den Drachen keiner mehr übrig war: Der vordere Teil, den der Drache im Flug der Welt preisgab, war völlig ungeschützt, da nur von kleinen Schuppen bedeckt, die nicht härter waren als die bei einer Natter oder einer Eidechse. Sofort stieg der Drache hoch hinauf.
Sie flogen ohne Umwege auf die Schattenberge zu. Wieder flogen sie über die Hügel mit Weinbergen und Obstgärten, die sie beim ersten Mal schon gesehen hatten, aber
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