Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der letzte Elf

Titel: Der letzte Elf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvana DeMari Silvana De Mari
Vom Netzwerk:
keine Hühner mehr auf der Straße. Plötzlich tauchte jedoch ein Huhn auf, aus einem halb verfallenen Torgang war es auf die Straße geschlüpft. Es war ein sehr altes Huhn, mühsam schleppte es sich auf seinen Beinen dahin, aber es steuerte entschlossen auf Yorsch zu, der es wiedererkannte. Vor dreizehn Jahren hatte er dieses Huhn wieder zum Leben erweckt. Offenbar hatte das merkwürdige Geschick eines Wiederauferstandenen es vor Suppentopf und Bratspieß bewahrt, aber die Verbindung, die zwischen ihnen entstanden war, hatte es am Sterben gehindert. Jetzt konnte es nicht mehr. Es hatte Yorsch gewittert. Der Geist des Jungen war einmal mit dem seinen verschmolzen, als es von jenseits des Todes wiedergekehrt war, und das verband sie unauflöslich. Es hatte sich bis zu ihm geschleppt. Yorsch beugte sich hinunter und nahm das Huhn auf den Arm. Sie sahen sich ein letztes Mal an und endlich konnte das Huhn sich in den Tod hinübergleiten lassen. Der Junge fühlte, wie Frieden in das Herz des Huhns einkehrte und es zu schlagen aufhörte. Er hob den Blick und sah sich um. Er war nicht der Einzige, der von der Geschichte mit dem Huhn wusste und es wiedererkannt hatte. Außer dem Soldaten, der ihn begleitete, standen da vier Männer, zwei alte Weiber, ein Mädchen und wieder das Grüppchen der zerlumpten, zaundürren Jungs, bedrohlich mit Steinschleudern bewaffnet. Alle sahen ihn an. Jetzt ertönte laut und vernehmlich das Wort »Elf«. Wieder gab es Steinwürfe, aber diesmal mehr. Unmöglich, sämtliche Flugbahnen zu verfolgen.
    Yorsch fragte sich, wohin er fliehen könnte. Sämtliche Fluchtwege waren versperrt. Blieb nur die Mauer. Er brauchte sich nur kurz vorzustellen, er sei eine Eidechse, und schon war er oben, in sein Kleid gehüllt wie in eine Wolke und verfolgt von Schreien und Steinwürfen. Auf der anderen Seite lag ein Garten mit riesigen Bäumen, Springbrunnen und einem Teich, in dem sich Schwäne spiegelten. Mächtige Glyzinien rankten sich an der Mauer hinauf und ihre knorrigen Stämme erleichterten ihm das Hinuntersteigen. Sie hingen über und über voller Blüten und vermittelten ihm den Eindruck von einem Paradies, aber es war ein seltsames Paradies, irgendwie übertrieben. Wieder fragte sich Yorsch, wie diese üppige Blüte kurz vor dem Winter möglich war. Er verstand nichts von Glyzinien, aber ihr Duft kam ihm zu intensiv vor. Ganz in der Nähe saß ein weiß gekleidetes Mädchen auf einer Schaukel und sang ein altes Lied von Jungfern, Jünglingen und junger Liebe. In den Schatten der Glyzinien geduckt, schlich Yorsch näher. Das Mädchen war groß und schlank, sehr schön, mit weißer Haut und großen grünen Augen. Ihr Kleid war mit Goldstickereien verziert, ihr blondes Haar war zu einer Reihe von Zöpfchen geflochten, die über Kreuz gelegt waren wie die Steppnähte an dem hohen, steifen Kragen, und an jedem Kreuzungspunkt saß ein goldenes Ringlein. Das alles wirkte eher wie ein Gemälde oder ein Theaterkostüm. Außerdem kam ihm das Mädchen zu alt vor, um singend auf einer Schaukel herumzutändeln. Schließlich zerstob der Zauber der Szene und erwies sich als Täuschung. In der Nähe des Mädchens auf der Schaukel stand ein kleines, dunkles Mädchen, und als die andere ihr Lied zu Ende gesungen hatte, holte die Kleine tief Luft und wagte, etwas zu fragen. Eine Art Donnerwetter brach los und Yorsch konnte ein paar Fetzen der anschließenden Unterhaltung aufschnappen. Die Frage war, ob man sich auf der Schaukel abwechseln konnte. In Wirklichkeit handelte es sich um einen Monolog über die Unmöglichkeit, sich auf der Schaukel abzuwechseln, was, wie es schien, unantastbares und ständiges Privileg des blonden Mädchens war.
    »… weil ich die Tochter des Verwaltungsrichters bin, verstehst du, und wie kommst du dazu... du unerträgliches Gör, Tochter von... irgendwem... irgendwem völlig Unbedeutenden...«
    Die Kleine weinte verzweifelt.
    »Du bist dick, hässlich und dumm. Und du bist einfach irgendwer. Irgendwer. Mein Vater, verstehst du, mein Vater ist derjenige, der...«
    Was für eine unerträgliche Schnepfe! Aber wie alt war die denn? Zweieinhalb? Und was sollte das heißen: »irgendwer«? War das etwa eine Beleidigung? Abgesehen davon, dass Schaukeln etwas für kleine Kinder ist und Mademoiselle schon im heiratsfähigen Alter zu sein schien, war Ihre Hoheit eine Hyäne. Yorsch war versucht, dem kleineren Mädchen zu Hilfe zu eilen, aber er hatte selbst schon genug Ärger am Hals, und es war

Weitere Kostenlose Bücher