Der letzte Engel (German Edition)
Stein verfehlte die Nester um gute zwei Meter und prallte mit einem klackenden Ton von den Felsen ab. Mona stand auf und war dabei, die Wolldecke zusammenzulegen, als sie die Blume sah. Sie hing zwischen den Falten und war ein wenig zerdrückt. Mona hob sie auf, ihr Duft war herb und kühl, als wäre die Pflanze in der Dunkelheit gewachsen. Jasmin hatte sich richtig erinnert, die Blüte hatte dieselbe Farbe wie die Kormoraneier. Falls wir diese bescheuerten Eier jemals wieder zu sehen bekommen, dachte Mona und verstaute die Blume in ihrer Rocktasche, um sie Jasmin später zu zeigen.
Erst gab es Mittagessen, dann hatte Mona sich mit Helen um den Gemüsegarten zu kümmern und am Nachmittag saßen die Mädchen vor einem Film und Mona vergaß die Blume völlig. Die Haushälterin fand sie am Abend, als sie die dreckige Wäsche einsammelte. Stella war es gewöhnt, Zettel, Steine, Bänder und Süßigkeiten in den Rocktaschen zu finden. Manchmal eine Vogelfeder oder eine Muschel. Aber nie Blumen.
Stella stutzte. Sie kannte die Pflanzen in diesem Landstrich und eine von dieser Art hatte sie noch nie gesehen. Auch wenn sie nur die Haushälterin war, hatte Stella eine Verantwortung für die Mädchen. Deswegen achtete sie auf Zeichen, deswegen war sie mehr als nur die Haushälterin.
Stella gab ihren Fund an die Hausherrin weiter, die den Gouvernanten vorstand und sich um die Verwaltung des Hauses kümmerte. Natalia Hakonson war sechsundvierzig Jahre alt, und bis zu diesem Tag kannte niemand ihre Geschichte, woher sie kam oder wer sie wirklich war. Das sollte sich sehr bald ändern.
Die Hausherrin rief Mona am Montagmorgen nach dem Frühstück zu sich und fragte, woher sie die Blume hätte. Mona sagte die Wahrheit, lügen kam ihr nicht in den Sinn. Sie erzählte, wie einfach es gewesen war, Jasmins Erinnerung zu berühren. Als Natalia Hakonson das hörte, lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück und war mehr als verwirrt. Nicht nur von Monas Geschichte, sondern auch von der Tatsache, dass sie die Blume gestern Nacht auf ihrem Schreibtisch liegen gelassen hatte, und jetzt war sie spurlos verschwunden. Das Büro war abgeschlossen gewesen, nichts sonst fehlte. Mona konnte sehen, wie der Hausherrin der Schweiß auf die Stirn trat. Zweimal ließ sie sich erzählen, was genau Mona in der Erinnerung erlebt hatte.
»Und du hast Jasmin einfach nur berührt?«
»Ich habe sie einfach nur berührt.«
»Zeig es mir.«
Mona verstand nicht. Die Hausherrin beugte sich vor und streckte dem Mädchen ihre Hand entgegen. Es war eine Einladung. Mona wurde rot. Sie stellte sich vor, wie sie die Hand berührte und nichts geschah. Und dann bin ich die Doofe, dachte sie und berührte die Hand. Nach wenigen Sekunden ließ sie los. Die Hausherrin wirkte enttäuscht.
»Es tut mir leid«, sagte Mona.
»Vielleicht musst du meine Hand länger halten.«
»Nein, es tut mir leid, dass du gehen musstest«, sagte Mona.
Natalia zog ihre Hand zurück. Sie saß da, als hätte ihr Mona ins Gesicht geschlagen.
»Was … Was genau hast du gesehen?«
»Ich habe nichts gesehen , ich war dort«, sagte Mona und erzählte von dem Jungen, dem sie in Natalias Erinnerung begegnet war. Sie erzählte von dem Hotel und dass es kein gutes Versteck gewesen sei. Mona sagte aber nicht, dass sie die Verzweiflung der Hausherrin körperlich gespürt hatte und dass Natalia Hakonson für eine lange Zeit so mutlos gewesen war, dass sie ernsthaft darüber nachgedacht hatte, sich umzubringen.
»Du wolltest helfen«, sagte Mona. »Deswegen bist du hier.«
Die Hausherrin starrte auf die Tischplatte, als würden ihre Gedanken dort verstreut liegen und darauf warten, geordnet zu werden.
»Mona, hör mir jetzt sehr gut zu«, sagte sie nach einer langen Pause und ohne aufzublicken. »Ich will, dass du mit niemandem über deine Gabe redest. Mit wirklich niemandem. Für eine Weile zumindest nicht. Versprichst du mir das?«
Mona versprach es ihr. Die Hausherrin sagte, das sei dann alles. Mona stand auf und wollte das Zimmer verlassen, sie blieb aber an der Tür stehen. Die Neugierde war einfach zu groß.
»Heißt er wirklich Motte?«
Die Hausherrin rührte sich nicht, sie war so erstarrt, dass sich Mona wunderte, ob ihre Gedanken jetzt vielleicht vom Tisch gerutscht waren und auf dem Boden lagen. Endlich blickte sie auf. Die Hausherrin hatte Tränen in den Augen, und Mona bereute es sehr, ihr diese Frage gestellt zu haben.
»Er heißt in Wirklichkeit Markus«, antwortete sie. »Aber
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