Der letzte Engel (German Edition)
Gouvernanten innerhalb der ersten zwei Minuten. Sie wurden im Schlaf überrascht. Die Männer waren lautlos, ihre Bewegungen aufeinander abgestimmt. Auf dem Weg nach oben begegneten sie ihrem ersten Problem.
Stella O’Niven war Mitte vierzig, einen Meter achtzig groß und wog keine sechzig Kilo. Die O’Nivens arbeiteten schon seit Generationen für das Haus der Kormorane und kümmerten sich um den Gemüsegarten, strichen die sturmgepeitschte Fassade im Frühjahr neu und erledigten anfallende Arbeiten. Als Haushälterin machte Stella jeden Morgen dieselbe Runde – heizte ein und setzte Teewasser für das Frühstück auf, holte den vorbereiteten Teig aus dem Kühlschrank und formte Brötchen. Sie deckte dann den Tisch und nahm eine Dusche, während die Brötchen backten und die Mädchen langsam erwachten. Jeder Tag hatte denselben Rhythmus. Nur an den Wochenenden übernahm eine der Gouvernanten die Aufgaben der Haushälterin. In dieser Zeit kümmerte sich Stella um ihre Mutter und ihre zwei erwachsenen Söhne. Sie erledigte Einkäufe, ging spazieren und spielte Karten im Club. Alles in ihrem Leben verlief in einer geordneten Bahn.
Auch dieser Morgen fing so an.
Stella war zwei Minuten vor sechs angezogen, hatte sich das Haar hochgesteckt und verließ ihr Zimmer. Sie hörte das Wasser im Badezimmer laufen, sie hörte flüsternde Stimmen und versuchte zu erraten, welche der Mädchen wach waren.
Im Halbdunkel erinnerte Stellas kerzengerade Gestalt an eine strenge Lehrerin, aber sie war alles andere als streng. Stella war die gute Seele für die Mädchen. Wann immer es Schwierigkeiten gab, kamen sie zu ihr und holten sich Rat. Stella mochte diese Rolle. Sie hatte keine Tochter, und so fühlte es sich an, als wäre sie die Mutter von acht Mädchen.
Am obersten Treppenansatz angelangt, blieb Stella für einen Moment stehen und genoss die Ruhe des Hauses. Sie kannte jede knarrende Diele und jede Ritze, durch die der Wind an den stürmischen Tagen pfiff. Es war so sehr ihr Zuhause, wie es das Zuhause der Mädchen war. Als die Standuhr im Erdgeschoss den sechsten Glockenschlag von sich gab, war Stella bereit, nach unten zu gehen.
Die fünf Männer im Eingangsbereich erstarrten und sahen zu ihr hoch.
»Aber …«
Mehr konnte Stella nicht sagen. Der Schalldämpfer gab ein sanftes Ploppen von sich. Die erste Kugel durchschlug das Herz der Haushälterin, die zweite riss ein Loch in die Hand, die sie schützend vor sich hielt. Stella war auf der Stelle tot.
Zwei der Männer fingen ihren Sturz ab und standen danach wieder still.
Niemand rührte sich.
Sie lauschten, sie hörten das Knarren von Dielen über sich, sie hörten hastige Schritte.
Lazar gab ein Zeichen, die Männer eilten die Treppe hinauf.
Alles musste jetzt schneller gehen.
Vier der Gouvernanten hatten mit Hilfe der Hausherrin die Tür zum Hauptsaal verbarrikadiert. Sie zögerten nicht, sie reagierten sofort, als wären sie auf einen Angriff vorbereitet gewesen. Lazars Männer versuchten nicht, die Tür aufzubrechen. Sie legten eine Sprengladung neben dem Türrahmen an und kamen durch die Wand.
Eine Gouvernante fehlte.
Ennis war neunundzwanzig Jahre alt und stand mit zwei der Mädchen im Badezimmer, als Lazars Männer die Wand zum Hauptsaal sprengten. Sie dachte keine Sekunde an Widerstand, sie hatte nur Flucht im Kopf und ergriff die Mädchen bei den Händen. Lautlos stiegen sie über das Balkongeländer und kletterten am Rankengerüst hinunter. Sie trugen noch ihre Schlafanzüge, und als sie unten ankamen, klatschten ihre bloßen Füße auf den Felsen.
Die Mädchen hießen Mona und Jasmin, sie waren zehn Jahre alt und beste Freundinnen. Ennis befahl ihnen, nicht zurückzuschauen. Ihr Ziel waren die Stufen, die zu den Klippen hinunterführten. Ein Pfad lief am Wasser entlang, und wenn sie dem Pfad folgten, würden sie zum Hof der O’Nivens kommen, und dort wären sie sicher, versprach die Gouvernante und schob die Mädchen vor sich her.
Sie hätten Schuhe tragen sollen.
Jasmin rutschte nach zwanzig Metern auf den nassen Stufen aus und fiel. Mona zog sie wieder hoch, als Jasmin aber versuchte aufzutreten, knickte ihr Fuß weg und sie brach in Tränen aus. Ennis nahm sie auf den Arm und hätte beinahe selbst losgeheult, weil sich Jasmin so sehr an ihr festklammerte. Es fühlte sich an, als hätte das Mädchen überhaupt kein Gewicht.
»Keine Sorge«, sagte die Gouvernante. »Wir werden jetzt …«
Das Brechen von Glas war zu hören. Ennis schaute
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