Der letzte Engel (German Edition)
nicht.
Wo ist er?
Esko schaut sich um, er schaut sogar zum Strand runter und erwartet den Söldner zu sehen, wie er auf das Wasser zurennt und dem Boot folgt. Der Söldner lässt sich nicht blicken. Das Ruderboot dümpelt auf dem See vor sich hin und ist jetzt hundert Meter vom Strand entfernt. Esko kann die Rentner und Mona auf dem Boot erkennen. Von Lars sieht er keine Spur. Die Strömung zieht das Boot mit sich und jeden Moment wird es hinter der Landzunge verschwinden.
Esko sucht das Messer, das der Söldner fallen gelassen hat, und fährt dabei mit der Hand über den Boden. Und wieder sieht er ihn nicht kommen. Ein Arm schließt sich beinahe schon sanft um Eskos Hals, der andere Arm umschlingt seine Hüfte. Der Körper des Söldners drückt sich schweißnass an Esko, das Messer dringt widerstandslos ein, und Esko kann spüren, wie es über seine unterste Rippe schabt.
»Auge um Auge«, flüstert ihm der Söldner ins Ohr und tritt wieder zurück.
Esko krümmt sich. Es fühlt sich an, als wäre eine Bombe in seinem Magen hochgegangen.
Der Söldner taucht vor ihm auf. Er hockt sich vor Esko, damit sie auf gleicher Höhe sind.
»Was stimmt mit deinem Gesicht nicht?«
Er schweigt einen Moment, als würde er eine Antwort erwarten. Er berührt Eskos Gesicht und schüttelt den Kopf, weil er es nicht verstehen kann.
»Wie findest du den Schmerz?«, fragt er. »Er wird noch besser, wenn ich das Messer erst mal rausgezogen habe.«
Er legt die Hand um den Messergriff.
»Ich werde dich jetzt allein lassen und mir das Mädchen holen, und vielleicht bringe ich sie hierher, um ihr zu zeigen, was aus ihrem Beschützer geworden ist, falls du so lange auf uns warten kannst.«
Der Söldner lacht, wie man über etwas lacht, das man schon zu oft gesagt hat, das aber nie seinen Witz verliert.
»Dachtest du, ich wäre wie Desser oder Cipoto? Mh? Hast du das gedacht?«
Der Söldner zieht das Messer mit einem Ruck heraus. Er hat nicht gelogen, der Schmerz ist ein einstürzendes Hochhaus aus Nerven, das nicht aufhören will einzustürzen. Der Söldner wischt die Klinge an seinem Oberschenkel sauber und wendet sich ab, als wäre er mit Esko fertig.
Das Blut fließt träge aus der Wunde. Esko drückt eine Hand drauf und spürt schon wieder die Nähe einer Ohnmacht und weiß, wenn er etwas in diesem Moment nicht braucht, dann ist es ohnmächtig werden. Er erhöht den Druck auf die Wunde. Der Schmerz lässt ihn wimmern und die Augen weit aufreißen; er gibt ihm aber auch die Kraft, sich wieder in Bewegung zu setzen. Esko sieht den Söldner vor dem Lager stehen und das Jagdgewehr aufheben. Er denkt nicht mehr, er reagiert nur noch, und seine Reaktion ist die Reaktion der Feiglinge, aber manchmal geht es nicht anders, manchmal ist es besser, eine Niederlage zuzugeben, als nie wieder einen Sieg zu erringen. Esko springt die Böschung hinunter. Ein Engel ohne Flügel in der Luft. Er rechnet mit einem Schuss, er rechnet mit einer Kugel, die ihn im Rücken trifft, während er dem Strand entgegenfällt. Womit er nicht rechnet, das ist das heisere Lachen des Söldners, dem ein lautes Rufen folgt, das durch den Grunewald hallt wie eine Fanfare, die zum Angriff bläst.
» AYAYAYAY !«
DER BEGLEITER
A lles hat seine Grenzen. Grenzen sind wichtig. Ohne Grenzen weiß man nicht, wo man steht, wer man ist, was man kann. Dann gibt es natürlich auch noch die negative Seite von Grenzen, aber über die will Lars im Moment nicht nachdenken. Er ist im Wasser, er ist noch zwanzig Meter vom Boot entfernt und sieht, wie Mona von zwei alten Frauen an Bord gezogen wird, als ihm mit voller Wucht bewusst wird, dass er sich mal wieder auf der Flucht befindet. Helden gehören in Comics, Schisser ins wahre Leben. Lars hat es mal wieder bewiesen. Er hat erneut die unsichtbare Grenze überschritten, die aus einem verdammt cleveren Lars einen verdammt feigen Lars macht.
Da schießt jemand auf mich und ein Engel ohne Flügel kämpft meinen Kampf.
Lars hört auf zu schwimmen. Er denkt an die Waffe, die Esko dem alten Sack im Café abgenommen hat und die jetzt in Monas Rucksack liegt. Wieso fällt mir die Knarre jetzt erst ein?, fragt er sich. Die Antwort lautet: Weil du ein Schisser bist. Und wie er das denkt, wird ihm bewusst, dass er nicht so feige sein muss. Er entscheidet sich dafür.
Es ist meine Wahl.
Lars bewegt nur die Beine im Wasser, er hört, wie still es um ihn herum ist – das Ruderboot dümpelt vor sich hin, die Wellen plätschern und
Weitere Kostenlose Bücher