Der letzte Engel (German Edition)
deutschen Studenten begegnete, auf dem Tiefpunkt. Pellair glaubte nicht mehr wirklich daran, dass es eine Möglichkeit gab, die Engel auf die Erde zurückzuholen. Und er fand den Preis dafür zu hoch. Sechsundvierzig Männer und dreißig Frauen hatte er in den letzten Jahren seziert, um den Fehler zu finden. Sechsundsiebzigmal hatte er das Versagen mit eigenen Händen zerpflückt und analysiert und war immer zu demselben Ergebnis gekommen: Er verstand nicht, warum die Experimente fehlschlugen. Oder wie er zu van Leeuwenhoek gesagt hatte: »Der Schlüssel mag zwar in den Knochen liegen, aber vielleicht sind wir Menschen nicht dafür gemacht, Engel zu sein.«
Es war ein Fehler gewesen. Van Leeuwenhoek war empört angesichts dieser Behauptung, er sah in jedem Menschen das Potenzial für einen Engel und empfand es als regelrecht blasphemisch, wenn jemand anders dachte. »Vielleicht sollten Sie uns die Menschen suchen, die dafür gemacht sind«, hatte er zu Pellair gesagt und den Chirurgen in das Nachtleben rausgeschickt, um Männer und Frauen für die Experimente zu rekrutieren.
Seit einem Jahr tat Pellair nichts anderes.
Er erwartete die Studenten vor der Gaststätte. Er machte ihnen ein Angebot und sagte, die Gefahr sei groß, aber das Ergebnis setze alle Naturgesetze außer Kraft und schon dafür lohne sich das Risiko. Er zählte ihnen die Namen der Wissenschaftler auf, die an dem Projekt teilnahmen. Er fragte die Studenten, ob sie ein Teil der Zukunft sein wollten. Mehr musste er nicht sagen. Die Studenten hatten endlich gefunden, wonach sie suchten.
Der Chirurg führte sie in die Villa, die bis zum Bersten mit Leben gefüllt war. Auf allen Stockwerken brannte Licht, die Forscher standen diskutierend in den Fluren, und die Küche war lebendiger, als die Gaststätte es gewesen war – Lachen und Streitereien und laute Gespräche.
Pellair ging daran vorbei.
Eine Gruppe von Forschern hatte sich in Sesseln und Sofas neben der Tür zu einem der Zimmer platziert, ihr Mittelpunkt war eine Frau von gut achtzig Jahren. Trotz ihres Alters schien sie von innen her zu glühen. Es ging eine Energie von ihr aus, die die umstehenden jüngeren Männer blass erscheinen ließ.
»Wer ist das?«, fragte Waldemar.
»Die Baronin von Krüdener«, antwortete Pellair, ohne seine Schritte zu verlangsamen.
»Aber …«
Waldemar drehte sich um, sodass Max gegen ihn lief.
»… ich dachte, die Baronin wäre vor dreizehn Jahren gestorben.«
»Tot sah sie ja nicht gerade aus«, sagte Max und rieb sich die Nase.
»Wenn das tot ist«, sagte Georg und schaute auch zur Baronin, »dann sterbe ich gerne.«
Ein Pfiff erklang, die Studenten drehten sich um.
Pellair wartete am Flurende auf sie.
»Wenn mir die Herren bitte weiter folgen würden«, sagte er.
In Kaminzimmer saß ein Mann vor dem Feuer und starrte in die Flammen. Die Ehrfurcht ließ die Studenten sprachlos werden.
»Meine Herren, der Leiter unserer wissenschaftlichen Abteilung.«
Yves Romain war zu diesem Zeitpunkt dreiundsiebzig Jahre alt und hatte die Kraft eines Rhinozerosses. Hätte er gewusst, dass ihn die Nähe zu den Flügeln am Leben erhielt, wäre er wahrscheinlich nie wieder vor die Tür getreten. Romain überragte die Studenten um einen Kopf und kam geschmeidig auf die Beine. War er früher groß und dürr gewesen und hatte immer eine gebeugte Haltung gehabt, so lag das hinter ihm. Aus dem eher zurückhaltenden Wissenschaftler war eine durch und durch stolze Gestalt herausgewachsen. Nachdem er jedem die Hand gereicht hatte, fragte er nach den Studienfächern der Studenten, nach ihren Leidenschaften und dem Grund ihres Besuches in Sankt Petersburg. Die Studenten logen, so gut sie konnten. Nach wenigen Minuten hatten sie hochrote Köpfe, aber Romain schien das nicht zu interessieren. Er hatte nur eine Frage an sie.
»Seid ihr bereit, der Wissenschaft zu dienen?«
Pellair schaute auf den Boden und wünschte sich, anderswo zu sein. Ein wenig fühlte er sich wie ein Schlachter, der den Kühen gutes Futter verspricht und dabei das blutige Messer hinter dem Rücken verbirgt.
Das wäre der Moment gewesen, in dem die Studenten hätten gehen müssen. Sie waren zu nahe dran, sie sollten beobachten und nicht teilhaben, genau das hatten ihnen die Brüder Grimm mit auf den Weg gegeben. Aber es war wie in allen Märchen. Die Unvernunft führt oft ins Verderben.
Waldemar wollte als Einziger die Villa verlassen, aber Max und Georg hatte der Enthusiasmus gepackt. Sie
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