Der letzte Engel (German Edition)
unterhielten sich mit dem großen Yves Romain, und wen da nicht der Enthusiasmus packte, der war entweder tot oder er hatte keinen Funken Forscherdrang in seiner Seele.
»Wir sind bereit«, sagten sie wie aus einem Mund.
Und so wurden sie in das erste Stockwerk geführt.
Das Zimmer hatte sich in den letzten zwanzig Jahren kaum verändert. Die Skelette waren noch immer auf Samt gebettet, aber ihnen fehlten die Fußknochen.
»Wir schätzen das Alter der Gebeine auf hunderttausend Jahre«, erklärte Romain. »Aber sie sind nicht unser wahrer Schatz.«
Er klappte eine Truhe auf.
»Das hier ist unser Heiligtum.«
Die Federn waren in ihr eigenes Leuchten gebadet. Waldemar erinnerte sich an das Licht, das die Baronin umgeben hatte. Die Studenten wurden von diesem Leuchten angezogen, wie man in einer dunklen, trostlosen Nacht von einem Feuer angezogen wird.
Georg fragte, ob es erlaubt sei.
»Nur zu«, sagte Romain und machte den Studenten Platz.
Georg berührte das Gefieder mit zitternden Fingern, Max tat es ihm gleich und brach sofort in Tränen aus, nur Waldemar wich einen Schritt zurück, obwohl es ihm schwerfiel.
»Die Ehrfurcht ist zu groß«, log er.
»Ein Gläubiger der ersten Stunde«, sagte Romain zufrieden und schloss die Truhe.
Von diesem Moment an hatte Waldemar seine Studentenkollegen verloren.
Waldemars Bericht war ausführlich und so erschreckend, dass die Brüder Grimm es im Nachhinein sehr bereuten, sich jemals in die Affäre der Gräfinnen eingemischt zu haben. Der Bericht beschrieb im Detail das Laboratorium im Keller der Villa und die Versuchsreihen, die dort stattfanden. Waldemar erzählte von dem Knochenmehl der Skelette, das in einer Blutprobe aufgelöst und den Versuchspersonen als Serum injiziert wurde. Max und Georg erschreckte diese Prozedur überhaupt nicht. Sie hatten nicht nur Yves Romain, sondern auch van Leeuwenhoek bei einem Nachtmahl kennengelernt. Ihnen gegenüber saßen Sir Hollister Burn und Wilbur Thobsen. Sie hätten für diese Männer alles getan und stellten sich deswegen freiwillig für die Experimentreihe zur Verfügung. Waldemars Zweifel prallten an ihnen ab. Sie verstanden sein Problem nicht. Ihnen wurde doch die Chance geboten, an der Seite von Forschern zu arbeiten, die Weltrang hatten. Wie konnte Waldemar da zweifeln?
Natürlich erfuhr auch Yves Romain von Waldemars Zurückhaltung und stellte ihn zur Rede. Waldemar gelang es, unsicher zu wirken. Er bot an, Protokoll zu führen, denn das sei seine Stärke. Er wollte mit seinem Verstand und nicht seinem Körper ein Teil der Familie sein. Romain gefiel die wissenschaftliche Herangehensweise. Nachdem er Rücksprache mit van Leeuwenhoek gehalten hatte, wurde Waldemar einer der Protokollanten, und seine Niederschrift war es dann auch, die er am Tag seiner Flucht aus dem Labor schmuggelte.
Von Nicolai Pellair erfuhr Waldemar, dass es mehr als nur ein Serum gab. Er schrieb in seinem Bericht: »Nicht nur sind es zwei Seren, die zum Einsatz kommen, es sind auch zwei Versuchsreihen. Pellair zeigte mir die Protokolle der letzten Jahre. Serum A bewirkt bei Männern wie Frauen eine Wandlung des Körpers und den baldigen schmerzhaften Tod (siehe Anhang). Serum B hat keine augenscheinliche Wirkung bei den Versuchspersonen, dennoch wird seine Erforschung fortgesetzt, was für mich unverständlich ist.«
Max und Georg wurde Serum A injiziert. Max starb innerhalb von achtundvierzig Stunden. Erst klagte er über Gelenkschmerzen, dann bekam er Fieber und wurde von Krämpfen geschüttelt. Waldemar blieb jede Minute an seiner Seite und protokollierte den Verfall seines Freundes aufs Genaueste. Er hielt alles fest und notierte auch, wie die Knochen sich unter der Haut verschoben und mit einem dumpfen Knall im Inneren des Körpers brachen.
Georg hielt länger durch. Er überlebte das Fieber vier Tage lang, dann blieb sein Herz stehen, als der Schmerz in seinem Rücken zu viel wurde.
In derselben Nacht rannte Waldemar davon.
Zwei Wochen später erreichte er Göttingen nach einer erschöpfenden Schiffsfahrt und einer noch viel zehrenderen Reise mit der Kutsche. Der warmherzige Waldemar war verschwunden, eine Hülle aus Furcht und Wut war zurückgeblieben. Nachdem er den Brüdern das Protokoll und die Nachricht vom Tod seiner Studienkollegen überbracht hatte, sank er auf dem Sofa in der Stube nieder und verfiel in einen tiefen Schlaf. Die Brüder trugen ihn in das Gästezimmer hinauf und lasen seine Aufzeichnungen.
Ihre schlimmsten
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