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Der letzte Engel (German Edition)

Der letzte Engel (German Edition)

Titel: Der letzte Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoran Drvenkar
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schwieg. Ich fragte ihn, was denn jetzt noch wäre. Lars verschwand im Bad und kam mit zwei Spiegeln zurück. Einen drückte er mir in die Hand, den anderen Spiegel brachte er hinter mir in Position. Jetzt sah ich es auch. Meine Schulterblätter waren vollkommen verschwunden. Kein Blut, keine Wunde. Als würden die Flügel schon immer aus meinem Rücken wachsen, als wäre das ein neuer Körper und ich nur Gast darin.
    »Wo ist deine Narbe?«, fragte Lars.
    Ich schielte runter auf meinen Bauch, ich tastete herum, auch meine Narbe war weg.
    »Hast du schon versucht, zu fliegen?«
    »Ich bin aufgewacht, und die Dinger waren dran, da denkt man nicht ans Fliegen.«
    »Du könntest es ausprobieren.«
    »Lars, ich könnte dich auch rausschmeißen.«
    »Ich mein ja nur«, sagte Lars lahm. »Irgendwann musst du ja vor die Tür gehen.«
    »Danke, genau das wollte ich hören. Wenn mein Vater mich so sieht, wird er durchdrehen. Und du kannst dir vorstellen, was –«
    Ein Räuspern unterbrach mich. Wir schauten zum Monitor. Ich bin einer von den Witzigen, die sich statt eines einfachen Klingelns ein Räuspern auf den PC gespielt haben. Wann immer eine Mail reinkam, räusperte sich Milla Jovovich dezent. Keine Ahnung, aus welchem Film ich das geklaut hatte, es klang auf jeden Fall gnadenlos cool oder in Momenten wie diesem gnadenlos dämlich. Das Ergebnis war dasselbe – eine neue Mail war angekommen.
    Ich sprang auf und taumelte, weil ich es nicht gewohnt war, das Gewicht auf meinem Rücken bei jeder Bewegung auszugleichen. Die Flügel entfalteten sich mit einem Rascheln zur vollen Größe und fingen meinen Sturz ab. Bücher wurden aus dem Regal gestoßen, der Vorhang wurde mit einem Ruck vom Fenster gerissen, die Deckenlampe zerbrach mit einem leisen Puffen und mein linker Flügel ritzte ein fette Schramme in die Wand. Lars war unter dem Schreibtisch in Deckung gegangen.
    »Ruhig«, sagte ich zu mir selbst, und meine Flügel wurden ruhig und falteten sich wieder zusammen. Es war ein erhabenes Gefühl, als hätte ich ein wildes Tier gezähmt.
    » EY, MACH DAS NI E WIEDER !«, schrie mich Lars an.
    »Du kannst aufstehen, es ist vorbei.«
    » ICH MEINE DAS ERNST, MOTTE, MACH DAS NIE WIEDER !«
    Ich griff mir die Maus. Die Mail öffnete sich, ich las und meine Arme wurden schwer, der Kopf wurde bleiern und die Luft schmeckte nach Asche. Ich ließ die Maus los und drückte eine Hand flach auf den Monitor, als könnte ich die Worte damit auslöschen.
    Lars kam unter dem Tisch hervor.
    »Motte?«
    »Was?«
    »Nimm mal die Hand weg.«
    Ich nahm die Hand vom Monitor und trat zurück.
    ps:
    du bist jetzt
    der letzte engel auf erden
    »Nee!«, sagte Lars und musste grinsen. »Das ist doch irre, Mann, das ist –«
    »Da ist mehr«, unterbrach ich ihn.
    Lars las weiter.
    und verzeih
    engel sind nun mal
    geschlechtslos
    »Engel sind was ?«, fragte Lars und wandte sich mir zu, wie ich da blass und mit den Händen vor dem Schritt hinter ihm stand.
    »Er ist weg«, sagte ich.
    Lars schaute sich um.
    »Wer? Wer ist weg?«
    »Mein Schwanz, du Blödmann, da ist nichts mehr!«
    Die Zimmertür ging auf. Mein Vater steckte den Kopf rein. Er hatte noch nie was vom Klopfen gehalten. Normalerweise war er einen Meter neunzig groß. Im Liegen konnte man das nachmessen, aber seitdem uns meine Mutter verlassen hatte, hingen seine Schultern und er kam gerade auf einen Meter achtzig.
    »Anscheinend seid ihr taub und …«
    Mein Vater verstummte. Hätte ich gekonnt, hätte ich mich in dem Moment versteckt. Ich wünschte mich weg, weit weg und erstarrte einfach, die Hände noch immer vor dem Schritt, nackt bis auf meine Shorts, zwei Flügel auf dem Rücken und ein gequältes Lächeln im Gesicht.
    »Ich kann das erklären«, sagte ich.
    »Wie sieht es denn hier aus?«, fragte mein Vater und schaute sich um.
    Es sah nicht gut aus. Der Vorhang war abgerissen, ein Kratzer lief im Halbbogen über die Wand, Bücher lagen auf dem Boden, der Stuhl war umgeworfen.
    »Es tut mir leid«, sagte ich.
    »Und wo ist Motte?«, fragte mein Vater.
    Lars sah mich an, als würde ich mich verstecken, ich sah zu meinem Vater, der sich überhaupt nicht für mich interessierte.
    »Lars?«, sagte er.
    »Was?«
    »Wo ist Motte?«
    »Er ist …«
    »Liegt er noch im Bett?«
    »Nein, er … Ich weiß nicht … ist kurz mal raus oder so.«
    »Papa?!«, sagte ich.
    Mein Vater warf einen Blick auf seine Uhr, runzelte die Stirn.
    »Manchmal seid ihr wirklich wie Kinder. Falls sich Motte

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