Der letzte Engel (German Edition)
sich und er schaute ins Schlafzimmer und sah das Bett und sah mich darauf liegen und lachte verunsichert und sagt dann:
»Mensch, Motte!«
Als ich nicht reagierte, kam er näher und bemerkte meine offenen Augen und beugte sich vor und berührte meine Schulter und schüttelte mich ein wenig, dann brach er zusammen wie ein Kartenhaus, das mit einem Schlag demoliert wurde. Und ich stand da, zwei Meter entfernt mit meinen verdammten Flügeln an die Wand gepresst und trug nur meine Shorts mit Garfield drauf.
Und konnte nichts sagen.
Und konnte nichts tun.
Habt ihr schon mal euren Vater gesehen, wie er wegen euch weint? Wie er ganz und gar zusammenbricht und nur noch ein Mann ist, der dasitzt und heult, weil ihr nicht mehr am Leben seid? Ich stand neben ihm, ich bekam das alles live mit und es war kein Spaß. Wie er meinen Körper zu sich zog, wie er ihn festhielt, wie er mich wieder hinlegte, zudeckte und dann einfach nur vor dem Bett auf dem Boden saß und vor sich hinstarrte.
Ich habe das alles beobachtet.
Zweimal sagte ich was. Mein Vater hörte mich nicht.
Ich sagte, es würde mir leidtun. Als wäre ich absichtlich gestorben, als müsste ich mich entschuldigen. Er hörte mich nicht. Und keinen Moment lang dachte ich daran, mir Stift und Papier zu greifen und ihm eine Nachricht zu schreiben.
Keinen einzigen Moment lang.
Die Dämmerung kam und füllte das Zimmer wie eine trübe Flüssigkeit. Mein Vater saß noch immer mit dem Rücken gegen den Bettrand gelehnt. Mehrmals hatte sein Handy geklingelt, aber er ignorierte es. Die Tränen waren getrocknet, er schaute alt und müde aus. Ich sah ihn nachdenken, sah die Schatten über sein Gesicht wandern, als wäre sein Gesicht eine Landschaft, über der die Sonne unterging. Dann holte er das Handy aus der Hosentasche. Ich erwartete einen Anruf bei der Polizei. Ich dachte auch ernsthaft, er ruft vielleicht meine Mutter an, und es stellt sich heraus, dass er all die Jahre geheimen Kontakt zu ihr gehalten hatte. Ich täuschte mich beide Male.
»Er ist tot«, sagte mein Vater in das Handy. »Wieso ist er schon tot?«
Er drehte den Kopf und sah meinen Körper an.
»Was heißt, ihr habt damit nichts zu tun? Ich dachte, er hat noch drei Jahre! Ich sitze an seinem verdammten Bett und er ist tot! Was ist passiert? Was zum Teufel ist nur passiert?«
Er wartete keine Antwort ab. Er unterbrach die Verbindung und warf das Handy an die Wand, was keinen großen Schaden anrichtete, weil die Wand einen Meter von ihm entfernt war. Es machte Klong , das Handy fiel ihm wieder vor die Füße und begann zu klingeln. Mein Vater starrte es an, ich starrte meinen Vater an und versuchte zu verdauen, was ich eben gehört hatte.
Das Handy klingelte. Und klingelte.
Mein Vater nahm den Anruf nach dem elften Klingeln an.
»Was?«
Er lauschte, er schloss die Augen, er sagte:
»Ich kümmer mich darum.«
Mein Vater verließ das Zimmer und kam mit einem Benzinkanister zurück. Ich hätte ihm gerne gesagt, was für eine dumme Idee das ist. Die Feuerwehr würde herausfinden, dass es kein zufälliges Feuer war. Sie würden den Brandherd analysieren und die Benzinspur zurückverfolgen. Ich kam keine Sekunde darauf, dass mein Vater ganz genau wusste, was er tat. Er kannte die Konsequenzen. Die Feuerwehr interessierte ihn nicht.
Er begoss mein Bett mit Benzin und vermied es, meinen Körper zu treffen. Danach legte er eine Spur bis in den Flur, ließ den Kanister stehen und verschwand in seinem Zimmer. Nachdem er gepackt hatte, ging er mit dem leeren Kanister und den zwei Koffern nach unten und verstaute alles im Auto. Im Wohnzimmer öffnete er den kleinen Wandtresor und nahm Papiere und Dokumente heraus, dann warf er einen Blick in den Kühlschrank, griff sich eine Wasserflasche und stieg die Treppe wieder hoch.
Minutenlang stand er am Ende der Benzinspur und dachte nach.
Wie kannst du das nur tun?, wollte ich ihn fragen. Und wieso hast du gedacht, ich hätte noch drei Jahre?
Er stellte die Wasserflasche auf den Boden, nahm eine Schachtel Streichhölzer aus seiner Jacke und entzündete eins. Er ließ es fallen, die Flamme wuchs wie aus dem Nichts empor und schlich in mein Zimmer, als wäre sie ein heimlicher Besucher.
Mein Vater hob die Wasserflasche auf und nahm einen Schluck, er drehte sich um und ging. Ich hörte nicht, wie er die Haustür schloss, ich hörte nicht, wie er davonfuhr. Ich sah, wie das Feuer mein Zimmer fraß, wie alles, was ich einmal war, zu glühen und zu leuchten begann.
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