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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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Briefen, die sie geschrieben, aber niemals abgeschickt hatte. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie schwer es sein kann, die Zeit vergehen zu lassen.«
    Als sie das Waschbrett gefunden hatten, bot Stella sich an, damit zurückzulaufen. Am anderen Ufer blinkte Karamellas Rücklicht an einem Haken. Die Fensterläden standen offen, Laken hingen aus dem Fenster. Efi dachte an das Bettzeug im Krankenhaus, Jannis dachte an nichts. Nach einer Weile zog sie ihre Sandalen aus und stand auf. Er streckte sich nach ihrem Stock, aber sie schüttelte den Kopf. »Ich will sehen, ob ich noch weiß, wie es geht.« Vorsichtig watete sie ins Wasser hinaus und stellte sich auf einen der sonnenwarmen Steine. Für einen Moment sah es aus, als verlöre sie das Gleichgewicht, aber sie machte einen Schritt zum nächsten Stein und gewann die Balance zurück. Als sie sich weiter in den Fluss hinaus bewegte, streifte Jannis seine Schuhe ab und folgte ihr. Er kreuzte Efis Spur, vermied es jedoch sorgsam, seine Füße dorthin zu setzen, wo sie gegangen war. Während sie weiter hinabging, flussabwärts, ging er schräg hinauf, flussaufwärts. Gelegentlich blieben sie stehen und kontrollierten, wie weit der andere gekommen war. Als sie schließlich das andere Ufer erreichten, befanden sie sich etwa zwanzig Meter voneinander entfernt. Die Steine glänzten nass. Die Spuren, die sie hinterlassen hatten, formten ein schiefes X.
    Beide mussten an das Zeichen gedacht haben, dem man laut Magister Nehemas tunlichst aus dem Weg gehen sollte. Jedenfalls kehrten sie wie auf Kommando zurück. Diesmal hüpfte Jannis schräg hinab, flussabwärts, während Efi flussaufwärts, hinauf ging. Auf halbem Weg machten sie einen Schritt zurück und blieben stehen. Immer noch schweigend, gingen sie anschließend vorwärts, änderten die Richtung und kehrten zu ihren Ausgangspunkten zurück. Auf diese Weise formten ihre in der Sonne trocknenden Spuren keinen gefährlichen Buchstaben mehr, sondern ein eckiges und unerwartetes, aber trotzdem deutlich erkennbares Unendlichkeitszeichen, oder auch eine 8. Als sie ihre Schuhe wieder anzogen, blickte Efi auf den Fluss hinaus. »So lange ich lebe, werden mir die Steine nass in Erinnerung bleiben.«
    Jannis sagte nichts. Er dachte an Derwische. Kurz bevor Stella zurückkehrte, fragte er jedoch: »Wirst du noch einmal operiert?« Efi winkte ihrer Freundin zu. »Meine Mutter glaubt, dass es davon nur noch schlimmer wird, aber mein Vater ist dafür. Ich weiß es nicht. Es kommt mir vor, als würde man eine Münze werfen.«
    ENDLICH . Von da an galten Efi und Jannis als ein Paar. Ob sie sich selbst so sahen, ist trotz des abgeschlagenen Flaschenhalses und der Ewigkeitsbewegung weniger gewiss. Zwei Ereignisse können erklären, warum. Der Einfachheit halber wollen wir sie als zwei Seiten der gleichen Münze betrachten – genauer gesagt des Geldstücks, das Efi an einem Juliabend kurz vor ihrer zweiten Operation in der Hand hielt.
    Es handelte sich um eine frisch gepresste Zehndrachmenmünze. Über der Wertangabe prangte das Landeswappen in stilisierter Form – und wurde von Efi im Licht einer einsamen Straßenlaterne studiert. Diesmal saßen sie und Jannis in einem Straßengraben vor Neochóri, bei der Transformatorenstation, an der man sich entscheiden konnte, entweder den Weg nach Áno Potamiá einzuschlagen oder bergabwärts zu gehen. Jannis war sechzehn, Efi vor kurzem siebzehn geworden. Ringsum hörte man Zikaden. Er wischte sich den Schweiß aus dem Nacken, sie dachte über das Landeswappen nach, das Nehemas in der Klasse kommentiert hatte. Nach der Stunde hatte Kostas gelacht und erklärt, man merke, dass der Lehrer Republikaner sei. Das Königshaus habe ihn nicht weiter interessiert, stattdessen habe er sich auf die mythologischen Gestalten konzentriert, die das Wappen flankierten, sowie auf die Bedeutung des hochtrabenden Wahlspruchs: »Meine Kraft ist die Liebe des Volkes.«
    Das Motto des Königs sah man auf der Münze in Efis Hand nicht, die spiegelverkehrten Männer waren dagegen leicht zu erkennen. Beide trugen eine Keule in der einen Hand und lehnten sich mit dem anderen Ellbogen gegen den Schild. »Weißt du, wer das ist?« Jannis hatte noch nie darüber nachgedacht. Efi nahm den Geruch der Pfirsiche wahr, die sie gegessen hatten, sowie die Haare des Freundes an ihrer Wange. Als er das Bild eingehender betrachtet hatte, schüttelte er erneut den Kopf. Sie hörte ihn atmen – schwer, warm, männlich. Sie waren nur

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