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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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sich erzwingen konnte. Er erkannte, dass sie grenzenlos war, er erkannte, dass sie Abstand enthielt, und er erkannte, dass ihn das freute. Dieses Zwerchfell, nur dieses Zwerchfell. Aber in diesem Moment war es weiter als die Welt.
    An den Schatten lasen sie ab, wie die Zeit verging. Efi erzählte von dem Schmerz in ihrer Hüfte und dass sie mit Freuden ein Jahr ihres Lebens dafür hergeben würde, hinterher normal gehen zu können. Jannis hatte Probleme, alles zu hören, was sie sagte, ein Ohr lag auf ihrer warmen Haut und ihre Hand auf dem anderen. »Also, ich habe gesagt«, wiederholte sie, »dass es Menschen gibt, die Wunder vollbringen müssen, aber du musst mich nur zum Bus begleiten.« »Sieh mal«, platzte Jannis heraus. »Hier liegt er ja!« Im Gras lag der Flaschenhals, der ein halbes Jahr zuvor abgeschlagen worden war. Er streifte das Glasstück auf ihren Finger. »Magister Nehemas kann sagen, was er will. Von jetzt an ist das hier der Nullpunkt.« Efi sagte nichts. Als sie zwei Minuten später immer noch schwieg, machte er eine unsichere Grimasse. Eigentlich hatte er vorgehabt, noch drei Worte zu sagen, beschloss stattdessen jedoch auszuspucken. Sie gingen zum Bus. Hatte er sie verletzt? Schließlich stieß er Efi in die Seite. »Du, das war doch nur Spaß.« Daraufhin blieb sie stehen – verwirrt, vielleicht auch wütend. Dann sagte sie: »Wenn du das Glück in diesen Augen nicht sehen kannst, musst du blind sein. Aber ich sehe ja, dass du nicht blind bist. Also, was stimmt mit dir nicht?«
    KOMPLIKATIONEN . Der Grund dafür, dass es ein Dreivierteljahr dauerte, bis Jannis auf diese Frage antwortete und Efi, statt etwas zu erwidern, die Fingerspitzen in seine Lachgrübchen drückte (siehe frühere Karteikarten), dieser Grund hat viele Namen: Infektion, Thrombose, Staphylokokken, Urinretention – sowie, kurz bevor sie eigentlich schon entlassen werden sollte, aber stattdessen weitere zwei Monate im Krankenhaus bleiben musste: Lungenembolie. Kurzum: Komplikationen. Als Folge eines Eingriffs, der nicht wie geplant verlief − ( I ) weil die Patientin in der Pubertät war und noch wuchs, was jedenfalls die Ärzte behaupteten, als die Familie sich beschwerte, ( II ) weil landwirtschaftliche Gerätschaften als chirurgische Instrumente benutzt worden waren oder ( III ) auf Grund der sanitären Verhältnisse, was ihrem Bruder beziehungsweise den Eltern plausibel erschien −, wurde die Behandlung einige Jahre später wiederholt. Als auch dieser Eingriff nicht das gewünschte Ergebnis brachte, obwohl die Patientin seit Jahren keinen Zentimeter mehr gewachsen war, wurde ein letzter Versuch unternommen: Nach dem Dreikönigsfest 1964 wurde im fernen Kristianstad eine Operation durchgeführt, woraufhin die Patientin ihren Stock wegwerfen konnte.
    Aber dazu kam es erst zehn Jahre später. Jetzt ist immer noch jetzt. Oder vielmehr Spätsommer 1954. Als Efi nach ihrer ersten Operation zurückkehrte, fünf Kilo magerer, aber mit schulterlangem Haar und einer kleidsamen Röte auf den Wangen, nahm sie umgehend den Bus nach Áno Potamiá. Im Krankenhaus hatte sie an Jannis gedacht, wie andere Menschen an sich selbst denken. Jetzt wollte sie wissen, warum er sie nie besucht hatte, schließlich waren sie so gut wie verheiratet. In Begleitung Stellas ging sie zu Familie Georgiadis. Als sie den Freund Essensreste im Hühnerhof verteilen sah, begriff sie, dass es andere gab, die ihn mehr brauchten. Seltsamerweise bestärkte sie diese Einsicht nur in ihrer Überzeugung, dass ihr Herz richtig lag. Die Mädchen grüßten die Mutter, die Wäsche aufhängte, und die Großmutter, die im Bett lag. Dann bat Vasso die jungen Leute, zum Fluss hinunter zu gehen. Sie hatte das Waschbrett vergessen.
    »Hast du an mich gedacht, als ich fort war?« Obwohl Stella weit vor ihnen ging, flüsterte Efi. »Natürlich …« Jannis hatte mittlerweile Flaum auf der Oberlippe, seine Stimme war dumpf und brüchig. »Das ist gut. Ich wollte dich das nur sagen hören. Erinnerst du dich hieran?« Sie hob die Hand mit dem Stock. Der abgeschlagene Flaschenhals blitzte an ihrem Finger grün und gelb. »Natürlich.« Ansonsten wirkte ihr Freund wie früher, nur grobschlächtiger. Sie erzählte von ihrem Krankenhausaufenthalt und Schmerzen und Infektionen. Von schlaflosen Patienten und zugigen Zimmern. Von ereignislosen Vormittagen und Nachmittagen und Abenden. Von den ersten Versuchen, im Park spazieren zu gehen, und der nachfolgenden Thrombose. Von den

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