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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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nicht wahr?« Nehemas sah die Kinder an, die müde, rastlos, desinteressiert waren. Er machte zwei schnelle Bewegungen. »Aber das hier müsst ihr vermeiden. Sonst ist es aus.« In der Tafelecke sah man ein Kreuz.
    Jetzt schielte der Lehrer zur Uhr an der Wand. Noch fünf Minuten. »Für manche heißt der Nullpunkt vielleicht Áno Potamiá. Was meinst du, Jannis?« Vereinzeltes Kichern. »Einige von euch werden den Ursprung sicher anders nennen. Nein, ich dachte beispielsweise an Neochóri, Makedoniens eigenes kleines Sparta.« Er spielte auf die Fußballmannschaft des Dorfs an, die wegen ihrer Spielweise »Die Spartaner« genannt wurde. »Aber sowohl in der Geometrie als auch in der Geographie beginnt alles hier.« Nehemas presste den Finger auf den Schnittpunkt. »Ohne andere Punkte wäre der Ursprung jedoch wertlos. Nicht nur das Kaff wäre wertlos, sondern auch Neochóri. Sogar Sparta. Doch, glaubt mir. Ruhe. Ruhe, habe ich gesagt. Denkt nach. Wenn ihr keinen Nabel hättet, dann hättet ihr auch weder ein Herz noch Muskeln – oder den Kopf, den ihr bitte am Wochenende benutzen werdet.« Die Kinder stöhnten auf. »Oh doch, ihr werdet einen Aufsatz schreiben. Titel: ›Mein Nullpunkt‹. Zwei Fragen müssen beantwortet werden. Erstens: Was betrachte ich als den Mittelpunkt meines Lebens? Und zweitens: Warum?«
    EIN ZWERCHFELL . Jannis schrieb am darauffolgenden Wochenende nichts. Der Winter rückte näher und die Felder mussten abgeflämmt werden. Doch obwohl er nicht in die Schule zurückkehrte, kannte er die Antworten auf die Fragen seines Lehrers. Für ihn konnte es keinen Zweifel daran geben, dass sein persönlicher Ursprung Áno Potamiá hieß – wie er Efi erklärte, als sie am nächsten Tag an der Innenseite der Kirchhofmauer lagen. Das Datum ist leicht festzustellen: der 5. November 1955. Denn nur wenige Tage später sollte die Freundin operiert werden, um anschließend ein Dreivierteljahr bettlägerig zu bleiben. Jetzt waren sie jedoch allein, lagen da, die Sonne schräg hinter sich, und hatten das Gefühl, die Ewigkeit hätte gerade begonnen. Sie hatten darüber gesprochen, was Efi schreiben wollte, sie hatten über die bevorstehende Operation gesprochen und was sie in zwei, zehn, hundert Jahren tun würden. Anschließend erkundigte sie sich, ob Jannis immer noch nach Wasser bohrte. »Manchmal«, antwortete er, stemmte jedoch die Ellbogen in die Erde. »Nein, das ist nicht wahr.« Dann schwieg er. Denn es war so: Wenn er zugab, dass Wunder erforderlich wären, um tiefer als eine Armlänge zu kommen, hatte er das Gefühl, das Kind zu verraten, das er einmal gewesen war.
    Efi sagte nichts. Stattdessen zog sie ihre Bluse hoch und bat den Freund, sich hinzulegen. Ihre Bewegungen waren ruhig und abgeklärt, als könnte sie sich nicht vorstellen, dass er etwas anderes tun wollte. Ihr Bauch war von hunderten feiner, blasser, fast unsichtbarer Flaumhärchen bedeckt. Direkt unter dem Nabel kräuselte sich ein einsames schwarzes Haar. Es verstrich etwas Zeit. Jannis lag zwar unbequem auf einer Schulter und ohne sein Gewicht verlagert zu haben, aber unter ihm schlug ein Muskel Schläge größer als Sonnen. Er dachte an Trommeln und Erdbeben, er dachte an Pferde, deren Hufe Blumen lebendig begraben. Er befand sich mindestens im Himmel.
    Schließlich drehte er den Körper, um eine neue Stellung zu finden. »Du kitzelst«, flüsterte Efi. »Nein, lieg still. Still, habe ich gesagt …« Die Schwere im Körper geschichtet wie glänzender Staub, strengte er sich an, nur Ohr und Berührung zu werden. Welch seltsamer Friede, welch stille Umwälzung. Nie zuvor hatte Jannis etwas Vergleichbares erlebt. Während er Efis Puls unter seiner Wange spürte, verfolgten ihre Augen eine träge Biene. Sie summte kurz über dem Erdboden, als fehlte ihr zu mehr die Kraft. Nach einer Weile stieß das Tier gegen ihren Arm, anschließend gegen ihre Schulter, drehte dann jedoch plötzlich ab und verschwand über die Mauer. »Jannis …« »Mm.« »Was glaubst du, was es wollte?« »Was?« »Das kleine Tier gerade.« »Du meinst, die Biene?« »Ja, was glaubst du …« Er drehte sich. »Wollte sie was?« Als Efi nicht antwortete, verlor er sich wieder in seinen Gedanken. Ohne erklären zu können, warum es so war, begriff er, was es hieß, mit einem Leinentuch vor der Nase zu liegen, das nach einer sagenhaften Mischung aus Seife und Kampfer roch. Es war eine Form von Nähe, wie er sie nie erlebt hatte, es war eine Nähe, die niemand für

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