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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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Sowjetunion, in Bulgarien, in der Tschechoslowakei, in Albanien und einigen anderen Ländern mitzählen. Auch wenn sie keine Vollgriechen sind, so sind sie doch Griechen. Mit den Ländern sieht das anders aus. Nur weil Griechen in ihnen wohnen, sind sie noch lange nicht Griechenland. Von unseren Helden ist Jesus der wichtigste. Nach ihm kommen Herakles und Alexander der Große. Jesus entsagte allem Eigentum, Herakles vollbrachte zwölf Heldentaten und Alexander unterwarf Persien und Ägypten. Magister Nehemas sagt, dass Alexander die Namen aller seiner Soldaten kannte. Wenn das stimmt, konnte er mehr Haare über Kreuz legen als andere Makedonier. Vielleicht eine Myriade mal. Makedonier sind auch Griechen. Waschechte Griechen. Alexander war der erste waschechte Grieche. Er wurde nie getauft. Herakles auch nicht. Aber Jesus wurde von Ioannis getauft. Griechenland wurde am 25. März getauft.«
    MAGISTER NEHEMAS’ SIEBEN BEDINGUNGEN FÜR EINEN HELDEN . »Notiert euch folgende Punkte, Kinder, und lernt sie auswendig. Es gibt sieben Bedingungen für einen Helden. 1. Niemand wird als Held geboren. 2. Wer geboren wird, der stirbt auch. 3. Ein Held stirbt, während er Dinge tut, die nur er tun kann. 4. Ein Held wird folglich erst geboren, wenn er stirbt. 5. Wenn der Tod ausbleibt, ist der Held tragisch. 6. Tragische Helden sind auch Helden, aber nicht so sehr, denn sie bleiben nicht ewig Helden. 7. Keiner lebt ewig.«
    GEDANKENAUSTAUSCH . Als der Magister vom größten aller Helden berichtet hatte, einem Halbgott, der eine Reihe von Großtaten vollbracht hatte und gestorben war, als ihm ein vergiftetes Kleidungsstück Haut und Fleisch von den Knochen gerissen hatte, zeigte einer der Schüler auf. Nehemas freute sich, weil es das erste Mal war, dass der Junge etwas sagen wollte.
    SCHÜLER: Woher weiß ein Held, wann er sterben wird?
    LEHRER: Wann er sterben wird? Das weiß er nie.
    SCHÜLER: Und wenn er sterben will, aber nicht kann?
    LEHRER: Nicht kann? Solche Helden gibt es nicht.
    SCHÜLER: Aber wenn?
    LEHRER: In dem Fall wird er wider Willen zum Helden. (Denkt nach.) Das wäre die größte Heldentat von allen. Und die letzte.
    NULLPUNKT . Da wir uns schon in dem Klassenzimmer mit den kolorierten Karten und dem Landeswappen an der Wand aufhalten, wollen wir die Gelegenheit nutzen, um auch folgende Szene festzuhalten.
    »Null?«
    Es war die letzte Schulstunde der Woche und Nehemas ließ den Blick über die Klasse schweifen. »Kostas will wissen, was Null ist. Gibt es dazu eine Ansicht? Dimitris? Nicht? Aphrodite?« Neuerliches Kopfschütteln. »Und Jannis?« Schulterzucken. »Bravo, in Áno Potamiá kennt man die Antwort. Null ist nichts. Aber ein Nichts«, lächelte der Lehrer geheimnisvoll, »das nicht immer nichts ist …« Nehemas sah sich nach einem Stück Kreide um.
    »Lasst es mich euch erklären.« Die Kinder rutschten unruhig hin und her. »Die Null hat zwei Gesichter – oder zwei Seiten, wenn euch das lieber ist. Wie eine Münze. In ihrer Eigenschaft als Ordnungszahl ist Null die Zahl, die eins vorausgeht, aber selbst nicht zählt. Betrachtet beispielsweise den menschlichen Körper.« Er zog einen senkrechten Strich. »So sieht ein Mensch aus. Na ja, in etwa. Aber ohne die Null wäre er niemals entstanden.« Er zeichnete in der Mitte der Figur einen Ring. »Was ist das? Genau, Efi. Ein Nabel. Es ist der Anfang von allem, aber in sich selbst nichts. Oder richtiger: Ohne dieses Loch mitten im Bauch würde ein Mensch nicht als Mensch zählen. Jeder von uns mag eine Eins sein. Oder will jemand in der Klasse leugnen, dass er sich selbst als Nummer eins in seinem Leben sieht?« Nehemas hielt zur Illustration die Kreide hoch. »Dann sind wir uns einig. Die Welt ist voller Einsen. Trotzdem hat jeder von uns einen Nabel. Und jetzt kommt das Wichtige: Genauso müssen wir die Null betrachten. Will sagen: als Bedingung.«
    Er blinzelte, als wollte er sich vergewissern, dass wenigstens ein Schüler in seiner Klasse verstand, was er sagte, dann zog er einen horizontalen Strich durch die Figur. »Das waren die Ordnungszahlen. Das hier ist etwas anderes. Nein, kein Zielfernrohr, Dimitris. In der Geometrie markiert die Null den Schnittpunkt zwischen zwei Ebenen – davor und dahinter, darüber und darunter.« Er zeigte es. »Ein solches Zeichen nennen die Mathematiker Nullpunkt oder auch Origo. Das Wort bedeutet ›Ursprung‹. Diese Null markiert, dass es ein Vor und Hinter und ein Unter und Über im Dasein gibt. Phantastisch,

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