Der letzte Kuss
die Decke über den Kopf. Er war zu alt, um mit seiner Mutter zusammenzuleben, und zu müde, um sich jetzt mit dieser Sache zu befassen.
Kapitel sieben
Um neun Uhr fünfundvierzig am nächsten Morgen begann sich vor Charlottes Speicher eine Schlange zu bilden. Charlotte warf Beth, die mit ihr über nichts anderes sprach als über das Geschäft, einen Blick zu. Offenbar hatte sie sich am Abend zuvor total ausgequatscht, und Charlotte respektierte ihre Privatleben – zunächst jedenfalls. Sie war jedoch fest entschlossen, am Ende des Tages ihre Freundin in die Enge zu treiben, um herauszufinden, was los war.
»Hast du ohne mein Wissen einen Ausverkauf angezeigt?« Beth deutete auf die Scharen von wartenden Frauen.
»Ich wünschte, es wäre so.« Charlotte runzelte verwirrt die Stirn.
Sie ging zur Eingangstür und schloss auf. Die Frauen strömten herein, als würde hier die Ware verschenkt. Alle umringten sie, bis Frieda Whitehall hervortrat, die offensichtlich die Sprecherin war. Das Haar der älteren Frau wurde langsam grau und war auf die einzige Weise frisiert, die Lu Anne kannte. Für gewöhnlich kleidete sich Frieda in Polyesterhosen mit dazu passenden waschbaren Seidenblusen, und auch heute machte sie keine Ausnahme. Aber Charlotte wusste, dass Frieda ihre Ehe aufpeppen wollte, und deshalb hatte sie Charlottes handgearbeitete Unterwäschegarnitur gekauft.
»Was kann ich für die Damen tun?«
»Wir sind interessiert an …« Frieda räusperte sich und errötete.
»Den geraubten Höschen!«, rief Marge Sinclair aus dem Hintergrund der Meute. »Meine Donna könnte auch welche gebrauchen.«
»Und ich muss meine ersetzen«, sagte Frieda. »Außerdem möchte ich auch welche für Terrie. Vielleicht lockert sie das ja etwas auf.«
»Geraubte Höschen?« Charlotte blinzelte überrascht. »Sie meinen die gehäkelten.« Offenbar war der Diebstahl inzwischen allgemein bekannt. In dieser Stadt verbreiteten sich Neuigkeiten schnell. Nur auf inständiges Bitten von Rick und dem Polizeichef hatte die Situation nach den anfänglichen Einbrüchen geheimgehalten werden können.
»Wir möchten alle welche.«
»Sie alle?«
Es erhob sich ein zustimmendes Gemurmel, und die Eingangstür stand nicht still. Es kamen jüngere Frauen, aber auch ältere, alle von ihnen waren an Charlottes ›geraubten Höschen‹ interessiert.
»Sie müssen verstehen, dass wir die nicht vorrätig haben.« Beth übernahm jetzt. »Diese Sorte wird individuell angefertigt. Ich notiere Ihre Namen, Ihre Farbwünsche und Maße. »Stellen sie sich in einer Reihe auf, und dann fangen wir an.«
»Was um alles in der Welt ist denn bloß los?«, fragte Charlotte. Noch am Abend zuvor hatte sie befürchtet, dass es mit ihrem Geschäft bergab gehen würde, und jetzt gab es diese Flut von Kunden, die genau die Sorte Höschen verlangten, die zum Einbruch einluden. Bei diesem Andrang würde sie bis Weihnachten – in neun Monaten – durchhäkeln müssen.
»Hast du die Morgenzeitung gelesen?«, wollte Lisa Burton wissen, eine ehemalige Mitschülerin von Charlotte und jetzt eine angesehene Lehrerin.
Charlotte schüttelte den Kopf. Sie hatte verschlafen, nach einer unruhigen Nacht voll übersteigerter Träume, in denen sie selbst und Roman die Hauptrolle spielten. »Keine Zeit für Zeitung oder Kaffee. Wieso?«
Lisas Augen funkelten vor Aufregung, als sie ihr ein Exemplar der Gazette hinhielt. »Wenn es einen Mann in dieser Stadt gäbe, den du mit Freuden in dein Haus einbrechen und deine Slips stehlen ließest, wer würde das wohl sein?«
»Na ja …«
Ehe Charlotte weitersprechen konnte, beantwortete Lisa ihre eigene Frage: »Natürlich einer der Chandlers.«
Charlotte blinzelte. »Natürlich.« Roman war der einzige Chandler, der sie interessierte, obwohl sie das nicht laut vor den anderen bekennen würde.
Er musste ihre Slips nicht stehlen, sie würde sie ihm bereitwillig übergeben – genauso wie wahrscheinlich die Hälfte aller Frauen dieser Stadt. Sie erinnerte sich an den gestrigen Abend, als seine Brüder von dem letzten Einbruch und den Anschuldigungen gegen Roman berichtet hatten. Chase hatte angekündigt, dass er es veröffentlichen würde.
»Was hat denn da genau gestanden?«, fragte sie die Freundin. »Lass nichts aus.«
Eine halbe Stunde später hatte Charlotte ihre Türen abgeschlossen, weil sie eine Pause brauchte. Vor ihr lag eine neue Liste von Frauen, die ihre Höschen erstehen wollte, Frauen, von denen sich viele
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