Der letzte Kuss
von Yorkshire Falls. Sie hatte das Glück gehabt, sich den perfekten Standort zu schnappen, und es hatte sie dabei nicht beunruhigt, ein weiteres Einzelhandelsgeschäft an die Stelle des früheren Bekleidungsladens zu setzen, denn ihre Ware war auf der Höhe der Zeit. Sie brauchte erst nach sechs Monaten mit einer Mieterhöhung zu rechnen, Zeit genug, um auf die Beine zu kommen, und der Erfolg bewies ihr inzwischen, dass sie auf dem richtigen Weg war.
»Hör mal, ich bin am Verhungern. Ich werde mir nebenan was zu essen gönnen. Kommst du mit?« Beth nahm ihre Jacke hinten von dem Garderobenständer und zog sie an.
»Nein, danke. Ich bleibe lieber hier und mache das Schaufenster fertig.« Charlotte und Beth hatten heute fast die gesamte Inventur geschafft. Wenn das Geschäft geschlossen war, konnte man schneller notwendige Arbeiten erledigen als zu den Öffnungszeiten. Die Kunden wollten nicht nur einkaufen, sondern auch plaudern.
Beth seufzte:« Wie du willst. Aber deine sozialen Kontakte sind jämmerlich. Selbst ich kann dir besser Gesellschaft leisten als diese Schaufensterpuppen.«
Charlotte wollte lachen, warf dann aber einen Blick auf Beth und erkannte in deren Augen etwas mehr als nur einen Scherz. »Du vermisst ihn, stimmt’s?«
Beth nickte. Fast jedes Wochenende war ihr Verlobter hergekommen, blieb von Freitag bis Sonntag, um dann für die Arbeitswoche in die Großstadt zurückzufahren. Da er dieses Wochenende ausgelassen hatte, konnte Charlotte sich vorstellen, dass Beth wahrscheinlich keine Lust auf eine weitere einsame Mahlzeit hatte.
Ebenso wenig wie Charlotte. »Weißt du was? Geh und besetze uns einen Tisch, und ich komme dann in fünf …« Ihre Stimme verebbte, als sie vor dem Fenster einen Mann entdeckte.
Pechschwarzes Haar glänzte in der Sonne, eine aufregende Sonnenbrille verdeckte sein Gesicht. Eine abgetragene Jeansjacke verhüllte die breiten Schultern, und Jeans saßen eng um seine langen Beine. Charlottes Magen machte einen Hüpfer und hinterließ ein warmes Gefühl in ihrem Bauch, als sie ihn zu erkennen glaubte.
Sie blinzelte und war sich dann wieder sicher, dass sie sich geirrt hatte. Er war weit genug zurückgewichen und jetzt außer Sicht. Sie schüttelte den Kopf. Unmöglich, dachte sie. Jeder in der Stadt wusste, dass Roman Chandler als Nachrichtenreporter unterwegs war. Seine Ideale hatte Charlotte stets respektiert, den brennenden Wunsch, Ungerechtigkeiten aufzudecken, die bisher nicht publik waren. Allerdings verstand sie nicht, was genau ihn von zuhause fernhielt.
Schon immer hatten seine Ambitionen sie an ihren Vater, einen Schauspieler, erinnert. Ebenso sein Charme und sein gutes Aussehen. Ein Zuzwinkern, ein Lächeln, und die Frauen lagen ihm zu Füßen. Verdammt, sie war von ihm hingerissen gewesen, und nachdem sie heftig geflirtet und sich sehnsüchtige Blicke zugeworfen hatten, folgte ihre erste Verabredung. Es war ein Abend gewesen, an dem sie sich auf
Anhieb und in einer bedeutungsvollen Weise mit Roman verstanden hatte. Sie hatte sich schnell und heftig verliebt, wie es nur einem Teenager ergehen kann. Und es war ein Abend gewesen, an dem sie erkennen musste, dass Roman vorhatte, Yorkshire Falls zu verlassen, sobald sich ihm die Gelegenheit bot.
Jahre zuvor hatte Charlottes Vater Frau und Kind verlassen, um nach Hollywood zu gehen. Bei Romans Erklärung hatte sie sofort erkannt, was er durch sein Fortgehen dann alles zerstören würde.
Sie musste sich nur das einsame Leben ihrer Mutter anschauen, um standhaft nach ihrer Überzeugung zu handeln. Am selben Abend noch hatte sie sich von Roman für immer mit der Lüge verabschiedet, er würde sie nicht wirklich anziehen. Und sie hatte sich nicht erlaubt, zurückzuschauen, egal, wie sehr das schmerzte – und es schmerzte sie sehr.
Vorsicht, nicht berühren. Eine kluge Regel für ein Mädchen, das sich sein Herz und seine Seele unversehrt erhalten wollte. Zur Zeit war ihr nicht nach einer Beziehung zumute, aber das würde sich ändern, wenn der richtige Mann auftauchte. Bis dahin würde sie sich an diese Regel halten. Sie hatte nicht die Absicht, dem Weg ihrer Mutter zu folgen, indem sie darauf wartete, dass der Wandervogel hin und wieder heimkehrte, also würde sie sich auch nicht mit einem rastlosen Wesen wie Roman Chandler einlassen. Außerdem gab es keinen Grund, sich darüber Gedanken zu machen. Mit Sicherheit war er nicht in der Stadt, und selbst wenn er es wäre, würde er sich von ihr fernhalten.
Beth
Weitere Kostenlose Bücher