Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Titel: Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Trodler
Vom Netzwerk:
unbewegt. Zwischen seinen arthritischen Fingern hielt er eine Tasse dampfenden Tee. Lies rollte sich zur Seite und angelte nach der Tasse, die vermutlich für sie bestimmt war. »Danke.«
    Nichts. Er ließ nur die Tasse los. Sie war für sie bestimmt.
    Schluck für Schluck trank sie von dem Tee, spürte, wie das heiße Getränk in jede Körperfalte drang und die schlafenden Muskeln weckte. Der Wind säuselte ums Haus herum, ein wenig Blau blitzte schüchtern durch das Fenster. Das Wetter hatte sich beruhigt, so schnell, wie das nur in Island ging. Jetzt war die Sonne dran. Sie schob sich zwischen den Wolken hervor und ließ den Schnee, der in dünner Schicht das Land bedeckte, prachtvoll glitzern. Lies reckte den Hals, um mehr davon zu sehen. Ein paar Möwen schwangen sich kühn in die Luft, der Sonne entgegen. Der Spitz heulte draußen. Lies wunderte sich, wieso.
    Und dann bebte die Erde. Ganz langsam begann der Boden zu zittern. Das Bett, die Decken, Lies fühlte es an den Beinen, die locker auf der Matratze lagen. Sie zitterten – alles zitterte! Und der Schrank wackelte auf seinen ungleichen Füßen, düster grummelnd, dann sah sie ihn schwanken, sanft gegen die Wand kippen, und ein unheimliches Brummen drang in ihren Kopf – panisch griff sie um sich. Das Zittern hatte Besitz von ihr, vom Mobiliar genommen, es war hier drinnen, es war in ihr drin, ganz fein und in höchstem Maße bedrohlich …
    »Elías. Elías, was ist das?«
    Der Alte wandte den Kopf und sah aus dem Fenster. Sein strähniges, schütteres Haar zitterte. »Der Schneeberg spricht.«
    »Der Schneeberg?« Aufgeregt setzte sie sich hin. »Welcher Schneeberg?«
    »Der Vatnajökull. Er sitzt auf Vulkanen, Mädchen. Und manchmal spricht er.« Ein leises Lächeln glitt über Elías’ Gesicht, als kenne er den Berg und das Gespräch, was der bisweilen mit sich selbst führte. Auch Lies hatte hier in der Einsamkeit gelernt, der Natur zuzuhören – doch diese tiefe Stimme hatte sie noch nie gehört. In einer Mischung aus Furcht und Faszination starrte sie auf den Hocker, der Millimeter für Millimeter über den Boden schnarrte und schließlich stehen blieb. Das Zittern hatte aufgehört, die Welt schwieg erleichtert. Nichts geschah weiter, kein Lärm, keine Bewegung, kein Weltuntergang. Alles war wie vorher – fast alles.
    In der Küche hörte man die Männer sich unterhalten. Geschirr klapperte, Tassen knallten auf dem Tisch, jemand hobelte am hart gewordenen Brot herum. Ari kicherte. Tillis raue Stimme, Jóis dunkle Stimme. Lies nahm einen tiefen Schluck von ihrem Tee und sank zurück in die Kissen. Jóis Stimme, die ihr Gänsehaut verursachte und sie von außen wärmte wie der Tee von innen... Mit ihr im Ohr schlief sie behütet ein.
    Obwohl sich der Kaffee in der Thermoskanne befand, drang der Duft an ihre Nase. Lies öffnete die Augen. Sie fühlte sich, als ob sie 100 Jahre alt wäre. Mindestens. Jeder Knochen tat einzeln weh. Jede Bewegung kostete unendliche Mühe, und die Decken kratzten so unsäglich auf der Haut. Aber dieser Kaffeeduft …
    Das Tablett stand lockend auf dem Nachttisch. Kaffee in der Kanne, eine Tasse, die Zuckerdose. Eine schüchterne Wollblume versteckte sich hinter der Zuckerdose. Ein von Männerhand geschmiertes Brot mit an den Seiten überhängender Marmelade, die begann herunterzutropfen. Ein Riegel Draumur – wo sie den wohl noch gefunden hatten, ihre Draumur- Vorräte waren nämlich längst erschöpft. Hunger verspürte sie keinen, aber dem Kaffee konnte sie nicht widerstehen, und überhaupt, mit wachem Kopf ließ sich besser denken. Andächtig ließ sie das heiße Getränk in die Tasse gluckern und rührte Zucker hinein. Der Löffel klirrte schüchtern gegen den Tassenrand. Das war aber auch das einzige Geräusch im Haus – seltsam. Niemand da?
    Eine leise Erinnerung an das Erdbrummen stieg hoch. Doch alles sah aus wie sonst, und auch draußen hatte sich nichts verändert. Vielleicht hatte sie es auch nur geträumt? Mühsam pulte sie sich aus den Decken. Ihre Haut war überall gereizt und rot, aber aufgewärmt, Erfrierungen fand sie keine an ihren Füßen. Glück gehabt. Vielleicht waren diese kratzigen Socken aus Islandwolle, die sie so furchtbar auf der Haut fand, doch nicht so übel. Nachdem ja sämtliche Socken von daheim, gute wie billige, hintereinander ihren Dienst quittiert hatten, war sie ganz auf die selbstgestrickten von Elías umgestiegen – das war für ihre Füße die Rettung gewesen. Sie zog sich

Weitere Kostenlose Bücher