Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
anderen Tieren kannte. Sie waren und blieben seltsam fremd, alienartige Holzköpfe mit kalten Augen und flinken Mäulern, und so scheu, dass das Anfassen fast immer in Überwältigen ausartete. » Helvíti!«, hatte Elías über ihren ersten misslungenen Versuch geflucht, eins der wilderen Schafe bei den Hörnern zu packen, damit er es melken konnte. Und mit seinen großen Händen tat er nur einen einzigen Griff, und das Schaf hing zappelnd gefangen. Es fühlte sich an wie ein zuckender Stein, emotionslos und ohne Ärger oder Zorn, einfach nur zuckend, dann gab es den Widerstand auf und stand wie ein Felsblock vor ihr, den Kopf gegen ihren Oberschenkel, sich in sein Schicksal ergebend, weiter nichts. Das Lamm bähte klagend, und Elías’ knochige Hand fuhr liebevoll über das gelockte Fell, während er mit der anderen die Milchschale beiseitestellte und sich stöhnend aufrichtete. Auf eine Handbewegung hin gab Lies das Schaf frei. Ein, zwei bockende Bewegungen mit dem Kopf, dann war die Gefangenschaft bereits vergessen. Das Schaf lebt im Jetzt und nirgendwo sonst. Wie sensationell einfach diese Tiere waren!
Ihr Blick wanderte über den langen, filzigen Pelz, sie träumte von warmen Pullovern und erfreute sich an dem lustigen Anblick, den das wippende Haarkleid der Laufstallschafe machte, wenn sie herbeigerannt kamen. Und sie wartete immer begieriger darauf, dass in ihrem Beisein ein Lamm geboren wurde.
Vor allem aber beherzigte sie Jóis Ratschlag und beobachtete Elías bei der Arbeit. Sah zu, wie er die Lämmer anfasste, sie untersuchte und wie er dem zu schwach Geratenen mit sanften, aber nachdrücklichen Fingern die Milchflasche ins Maul drückte. Wie er Euter befühlte und die trächtigen Schafe beobachtete... und sie nach einiger Zeit in eine Box trieb, wo sie jedes Mal kurz darauf ein Lamm neben sich liegen hatten, ohne dass Lies groß etwas aufgefallen wäre.
›Ob man das lernen kann?‹, fragte Lies sich. Für sie sahen immer noch viele Schafe gleich aus. Gelb, braun, ein paar schwarzgrau, und vom trächtigen Leib sah man nichts. Manche stöhnten herzzerreißend, wenn die Wehen kamen, andere hechelten nur, aber das taten sie auch nach dem Fressen. Sie hatten etwas tierhaft Unpersönliches beim Ablammen, und Lies fragte sich, ob diese Tiere überhaupt Schmerz empfinden konnten.
Sie konnten: Einmal nahm Elías sie beiseite und zeigte ihr ein Schaf, welches schon eine ganze Weile unruhig umherstreifte. Dann lag es wieder, mit pumpendem Leib gegen die Grassodenwand gepresst. Er deutete auf die Augen, die wie zwei Glaskugeln unnatürlich aus dem schmalen Kopf hervorstachen. »Schmerz«, sagte er ganz deutlich. Das Schaf leckte sich mit flinken Bewegungen das Maul, wieder und wieder. Lies hatte bis dato noch keine Schafszunge gesehen. Die also gehörte auch dazu. Und trotzdem – das Lammen erlebte sie auch diesmal nicht. Bei der nächsten Runde lag das Lamm daneben – erschöpft, aber gut auf Erden angekommen. Es war wie verhext.
Nach dem Ablammen sahen die Schafe alle so aus wie vorher. Die langen Haare am flachen Hinterteil waren zwar noch ein wenig verschmierter als sonst, aber das volle Euter war unter der Wolle nicht zu erkennen. Doch als Lamm wusste man, wo man suchen musste, und wenn man das Euter zielsicher angestoßen hatte, kam auch sofort die Milch. Manche Schafe waren gute Mütter, manche kümmerten sich nicht wirklich um den Nachwuchs und dachten nur ans Fressen. Wie bei den Menschen, dachte Lies. Irgendwie sind wir doch nicht so weit voneinander entfernt.
Und als hätte Elías ihre Gedanken gelesen, sah er hoch und lächelte sie zum ersten Mal, seit sie auf Gunnarsstaðir war, freundlich an.
Auch das weiße Pferd hinten in der Box schaute nicht mehr so empört drein, wenn sie mit Futter kam. Sie fand es immer noch furchterregend, doch gleichzeitig tat es ihr auch leid, wie es da in hohem Mist stand, ohne sich bewegen zu können. Und eines Tages, als im Stall nichts los war, fand sie den Mut, der stinkenden Sache mit der Mistgabel zu Leibe zu rücken. Das Pferd drückte sich in die hinterste Ecke und ließ sie nicht aus den Augen.
»Bleib mal locker«, murmelte sie, »bleib einfach locker, dann passiert auch nix.«
Das Pferd schnaubte leise und kaute vor sich hin. Sie traute sich nicht, es von seinem Platz zu vertreiben, stach aber rund um ihn herum den ammoniakschweren Mist vom Boden, und der Weiße blieb respektvoll stehen und beobachtete ihr Tun. Schubkarre für Schubkarre füllte sich
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