Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
erst ein paar Wochen hier war, kam es ihr vor wie Monate, dass sich jemand um sie gekümmert hätte, und die Aufmerksamkeit rührte sie.
»Das ist ein Buch, um Isländisch zu lernen«, sagte er langsam und blätterte das dünnere Büchlein kurz durch. »Und das hier ist ein Wörterbuch. Hier.« Und damit reichte er ihr die beiden Bücher.
»Wo hast du die her?«, fragte Lies verständnislos. Aber die Bücher sahen benutzt aus – und er war doch Isländer. Was tut ein Isländer mit einer Isländisch-Fibel?
»Ich hatte mal’ne deutsche Freundin, die wollte das lernen. Sie wollte mit mir hier leben. Aber – sie – sie konnte das nicht.« Für den Moment starrte er in die Luft. Eine deutsche Freundin, die nicht hier leben konnte. Also keine Freundin mehr. Lies hielt ihre Hände fest umklammert, um nichts Unüberlegtes damit zu tun.
Dann griff er nach dem Radio. »Hiermit kannst du Nachrichten hören, immer um zwölf und um sechs Uhr. Elías hat kein Radio, musst du wissen.« Elías hat überhaupt nichts, was an die Außenwelt erinnert, vollendete sie den Satz im Stillen. Außer ein paar alten Zeitungen, in denen er die Todesanzeigen vom letzten Jahr studiert.
»Hör dir die Nachrichten an, und du wirst jeden Tag mehr verstehen.«
Lies grinste. »Du meinst, ich soll vom Nachrichtenmann Isländisch lernen?«
»Ein bisschen kannst du sicher von ihm lernen. Der Nachrichtenmann heißt fréttamaður, und das Wetter veðrið. Ganz wichtig. Veðrið .« Er lächelte. »Es ändert sich alle paar Stunden, aber man will das vorher ja gerne wissen. Veðrið . Und jetzt muss ich los, hab ein paar Junghengste zu kastrieren.« Er packte seinen Rucksack und erhob sich.
»Sind wir eigentlich der letzte Hof an dieser Straße?«, fragte Lies schnell und drückte das Radio an ihre Brust. Erstaunt sah er sie an. »Ich meine – ich weiß nicht so genau, wo ich hier bin«, stotterte sie, während unangenehme Röte in ihr Gesicht schoss. »Also – wo der Hof – Gunnarsstaðir – wo das liegt, auf der Karte – auf der Islandkarte -«
Jói betrachtete sie einen Moment. Sein Gesicht war ernst geworden. »Gunnarsstaðir ist der einzige Hof in diesem Tal«, sagte er.
Etwas drückte an Lies’ Kehle. Sie holte tief Luft und ließ ihren Blick über die graue Bergkette gleiten, die ihr Beklemmung verursachte. Die Luft war so klar, dass man beinahe jeden Stein einzeln erkennen konnte – Steine, soweit das Auge reichte. Die Wolken hatten ihre Farbe von grau in gräulich geändert, oben waren sie bereits weiß wie Schnee. Doch kein Grün, kein Strauch, kein Baum. Nichts als Stein. »Ah«, sagte sie.
Jóis Augen wurden schmal, und er biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. »Dort vorne -«, er deutete nach Osten, »dort vorne gabelt sich der Fluss, da kommt das große Tal. Dort gibt es vier Höfe, auf der Straße nach Egilstaðir.« Er schulterte den Rucksack. »Hat man dir das nicht gesagt? Dass der Hof alleine liegt?«
»Nein«, sagte Lies leise. Vielleicht hatte sie auch nicht zugehört, als man es ihr gesagt hatte. Es war sogar wahrscheinlich, dass sie nicht zugehört hatte. Es hatte sie auch nicht interessiert. Faul wie sie war, hatte sie sich nicht mal einen Reiseführer gekauft – sie hatte ja arbeiten wollen, sich ablenken. Einfach arbeiten, nicht denken, den ganzen Mist von zu Hause vergessen. Sie hatte nicht kompliziert in der Gegend rumreisen und Lavabrocken angucken wollen, dazu fehlte ihr der Mut. Kompliziert mochte sie eh nicht, und Island hatte – abgesehen von der seltsamen Sprache und der seltsamen Lage im Nordmeer – schon in Keflavík am Flughafen überaus kompliziert gewirkt, weil man aus dem Terminal in die Lavawüste stolperte und erst mal lange mit dem Bus fahren musste, bevor man überhaupt auf so was wie Zivilisation stieß. Die lange Reise vom Flughafen in die Hauptstadt hatte ihr schon gereicht. Im Hotel am Flughafen für Inlandsflüge war sie totmüde ins Bett gekippt, und der Flug in der kleinen weißen Klapperkiste quer über die Insel am nächsten Morgen hatte ihr den Rest gegeben. Sturmböen jagten das Gefährt, und Luftlöcher standen Spalier, um das Flugzeuglein alle paar Minuten scheinbar abstürzen zu lassen, hinter ihr hatte jemand die Tüte benutzt, Kinder heulten, Gepäck flog durch die Luft, obwohl es doch sicher verstaut sein musste, und überall nur Isländisch und kein verständliches Wort … Mit flauem Gefühl im Magen war Lies schließlich nach der Landung die Gangway
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