Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
herab, schon gestern hatte sie überlegt, ob es ihnen wohl gelingen würde, das Haus umzustürzen. Frühling. Okay, da war der Zipfel blauer Himmel, immer noch. Aber Frühling?
»Man riecht es. Der Fluss riecht anders. Langsam fängt der Gletscher an zu schmelzen, und das Schmelzwasser verändert die Farbe des Flusses. Die Luft«, zählte er auf, »die Luft riecht anders.«
Lies hob die Nase in die Luft. »Ich rieche nichts.«
Er lächelte und lud sie ein, sich hinzusetzen. »Du riechst es schon noch. Wenn du erst länger hier bist.«
Schweigend tranken sie den starken Kaffee, und Lies dachte über diesen letzten Satz nach. Wenn du länger hier bist. Wie lange eigentlich? Ein Jahr lief die Arbeitsfreistellung, und ein Jahr hatte sie auch mit der Vermittlungsagentur vereinbart. Wenn sie nicht mehr wollte, durfte sie allerdings früher abreisen. Jetzt war erst Frühling – ein Jahr schien von hier aus betrachtet endlos. Frühling. Wieder sah sie in den Himmel. Es hatte seit heute Morgen nicht mehr geschneit. Grau war es trotzdem, und Jói nannte das Frühling.
»Und?«, fragte er. »Wie kommst du zurecht?« Sein Kopf lehnte träge am Türrahmen, und man konnte an seinem nachlässig aus dem Pulli gezogenen Hemdkragen vorbei die helle Haut der Schulter sehen.
»Gut«, sagte sie und schaute verlegen woanders hin. Es war ohnehin so eng auf der Treppe.
»Hmhm.« Sie schwiegen.
Lies ohrfeigte sich in Gedanken für ihre Einfallslosigkeit. Jói hielt die Tasse in den gefalteten Händen und schlürfte beim Trinken. Das klang unanständig, aber vielleicht schmeckte ihm der Kaffee einfach. Den hatte sie selber gekocht, und sogar Elías trank ihn inzwischen, ohne ein Gesicht zu ziehen. Sie schmunzelte in sich hinein. Zumindest Kaffeekochen hatte sie auf Island gelernt.
»Wenn es mit dem Lammen richtig losgeht, werdet ihr mehr Arbeit haben.«
»Hmhm.«
Lies hatte erst einmal genau gesehen, wie einem Schaf das Lämmchen hinten rausgeplumpst war. Sie hatte sich geekelt, vor dem Blut und vor allem vor der bläulichen Nachgeburt. Das magere, blutverschmierte Lämmchen hatte nicht so ausgesehen, als würde es die nächste Fütterungsrunde überleben – als sie jedoch wieder bei ihm war, stand es auf seinen staksigen langen Beinen und suchte bei der Mutter nach dem Euter. Das hatte sie nun schon mehrmals erlebt – was meinte er dann mit Arbeit?
»Schaffen die das nicht alleine?«, raffte sie sich auf zu fragen. Die Sonne hatte die Wolken nun ganz beiseitegeschoben. Sie blendete und machte einen so angenehm müde. Vielleicht war der Frühling ja doch gekommen. Was für ein ungewöhnlicher Tag – in der Sonne neben diesem gutaussehenden netten... Lies schluckte und rührte heftig in der Tasse.
»Sie schaffen es nicht immer. Manchmal muss man helfen. Kommt drauf an.« Er schlürfte genüsslich. »Schau einfach Elías zu«, sagte er noch und schaufelte einen weiteren Löffel Zucker in den Kaffee.
»Hm.« Sie klemmte sich die Tasse zwischen die Beine. »Wer ist eigentlich helvíti ?«
» Helvíti ?« Jói guckte ungläubig.
Lies nickte. »Elías brummt ständig diesen Namen – wer ist das? Helvíti ?«
Jói grinste. » Helvíti wohnt überall da, wo man sich helvíti macht. Helvíti ist die Hölle – und ein wirklich böser Fluch. Elías ist ein schlechter Christ, musst du wissen.« Lies starrte ihn an. Ein Fluch. Der Alte fluchte also den ganzen lieben langen Tag!
» Heeeelvíti «, brummte sie düster. Irgendwie – irgendwie hörte sich das gut an. Befriedigend gut. » Heeeeelvíti .« Jóis Blick war nicht mehr zu deuten. Wahrscheinlich hielt er sie für komplett übergeschnappt. Die Einsamkeit. Die Höhenluft. Zu viel Schaffleisch. Irgend so was.
Laut zwitschernd flog ein Vogel vorbei, als fühlte er das Bedürfnis, diese Kaffeetafel ein wenig aufzupeppen. Seine Mühe war vergeblich. Island färbt schon ab auf mich, dachte Lies – mir fällt überhaupt nichts ein, was ich noch reden könnte. Man sitzt halt da und schweigt. Du lieber Himmel! Helvíti . Sie grinste still – und fand das gar nicht sooo schlimm.
Jói gähnte.
»Ich hab dir übrigens was mitgebracht«, sagte er und begann umständlich in seinem Rucksack zu kramen. Gespannt beugte Lies sich vor. Er zog einen Plastikbeutel heraus und legte ihn auf die Treppenstufe, um den Rucksack wieder zu schließen. In der Tüte verbargen sich zwei Bücher – und ein kleines Radio.
Lies lief es warm über den Rücken. Ein Geschenk in der Einsamkeit! Obwohl sie
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