Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
die Schrankinnenwand gepinnt hatte. Hjörvar – der Name gefiel ihr, sie hatte ihn in der Zeitung gefunden. Sie begrüßte den jungen unbekannten Soldaten jedes Mal so, wenn sie den Schrank aufklappte, er war einfach zu süß. Diesmal kam es ihr vor, als zwinkere er – hatte er tatsächlich grade gezwinkert?!?
»Eeeeh – bleib mal locker, Hjörvar«, murmelte sie und kniff die Augen zusammen. Hjörvar sah so aus wie immer: jung und ungemein attraktiv. Wie Männer aus den Vierzigerjahren meistens aussahen. Humphrey Bogarts kleiner Bruder. Das ist mein Flugzeug, Baby, steig ein, ich bring uns zum Mond . Lies grinste. So könnte es gewesen sein. Und locker blieb er sowieso, an seiner verrosteten Reißzwecke.
Irgendwie wurde es Zeit, dass Jói sich noch mal blicken ließ...
Das Radio nahm sie immer mit ins Badezimmer. Es tat gut, beim morgendlichen Waschen die neusten isländischen Schlagerhits zu hören; freundliche Menschenstimmen, fröhliche Melodien, es klang nach Leben, und nach einigen Tagen erkannte sie sogar die Moderatoren der Sendung wieder.
» Hæhæ «, sagte einer immer.
» Ég sit nú hérna að vinna «, sagte ein anderer, der ein furchtbar albernes Lachen hatte.
Signy, die Nachrichtensprecherin, sprach von allen am deutlichsten. » Velkomin, kæru hlustendur «, sagte sie. » Velkomin í þáttinn okkar .« Lies wusste allerdings nicht, wie der fréttamaður als Frau heißen würde. Sie musste unbedingt Jói danach fragen, wenn sie ihn das nächste Mal sah. Aber sie freute sich jeden Morgen, wenn sie Signys klare Stimme hörte, auch, wenn sie beinahe ausschließlich von überfahrenen Schafen, Drillingskälbern und Todesfällen berichtete. Das Ausland kam nur in seltenen Fällen vor. Lies gewöhnte sich an politiklose Tagesnachrichten, in denen dafür tote oder besonders erfolgreiche Tiere eine Hauptrolle spielten, und natürlich das Wetter.
Und dann stand eines Morgens Elías vor der Badezimmertür, als Lies herauskam. Mit gerunzelter Stirn und verschränkten Armen stand er da, und Lies wurde fast ängstlich zumute. Was wollte der Alte von ihr? »Lass mich bloß in Ruhe«, sagte sie leise drohend.
Er gestikulierte und deutete auf das Radio in ihrer Armbeuge. » Fréttir «, sagte er. » Láttu mig fá útvarpstækið.« Lies drückte das Radio an sich. Sie zögerte. Eremit, der er war – was würde er mit dem Gerät machen, wenn sie es überreichte? Zivilisationsfeindlich auseinanderbauen, drauf rumtrampeln, aus dem Fenster werfen? Was wollte einer wie er mit Nachrichten von der Außenwelt?
Elías’ Gesicht verfinsterte sich. Böse grunzte er » helvíti ...« und allerlei mehr und humpelte davon. Und ließ Lies ratlos zurück.
Als sie sich später zum Mittagessen über den Weg liefen – Lies hatte Pfannkuchenteig aus den Zutaten, die er ihr auf den Tisch gestellt hatte, zusammengerührt und bestreute die fertiggebackenen Kuchen gerade dick mit Zucker, so wie er es mochte -, wurden seine Augen groß, als er das Radio auf dem Tisch vorfand. Ängstlich beobachtete sie, wie er mit den Fingern darüberstrich, als berühre er einen mit Erinnerungen behafteten Gegenstand – und wie er es gleich darauf nahm und auf die Fensterbank stellte, als habe es dort schon immer gestanden. Nach dem wie stets schweigsamen Essen sah Lies im Rausgehen, wie Elías das Radio von der Fensterbank nahm, einschaltete und mit fast verzücktem Gesicht an sein Ohr hielt. »Komischer Kerl«, brummte sie. »Kann der sich keins leisten? Wo bin ich hier bloß gelandet...«
Von nun an war die Mittagsstunde heilig. Der alte Mann saß auf seiner Bank, das Radio ans Ohr geklemmt, und lauschte den Nachrichten aus einer Welt, der er schon vor vielen Jahren, aus welchen Gründen auch immer, entsagt hatte. Er hielt den Ellbogen mit der Rechten umfasst und presste das Gerät so nah ans Ohr, als versuche er, es sich dort hineinzuschieben. Seine Augen leuchteten – und erloschen, wenn die Schlussmelodie der fréttir erklang und weiter Musik gespielt wurde. Dann schaltete er andächtig aus, positionierte das Radio haargenau an der Stelle, wo es vorher gestanden hatte, und hängte die Handschlaufe in einer eleganten Schleife über die Radiokante.
Seine öden Tage hatten definitiv an Aspekten hinzugewonnen.
An einem erstaunlich sonnigen Maitag, an dem seit dem Morgen tatsächlich kein Wölkchen den Himmel getrübt hatte, stand wieder einmal ein Auto vor dem Haus. Lies’ Herz machte einen Satz. Aufgeregt steckte sie den
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