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Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Titel: Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Trodler
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Kæliskápur – Kühlschrank . Grænmæti – Gemüse . Herbergi – Herberge , veðurspá – Wettervorhersage , verslun – Geschäft. An Tagen, an denen Elías gut drauf war, fragte sie nach Worten und erhielt knappe Antworten, die zwar unhöflich, aber gut verständlich waren. Hættulegur hieß gefährlich – als sie ein Loch im Stalldach stopfte und die Leiter wackelte. Þú verður að bíða – du musst warten. Das sagte er oft. Wenn der Sturm sie ins Haus zurückpustete. Wenn der Ofen ausgegangen war, weil sie zu spät Öl nachgekippt hatte und mit den Zähnen klapperte. Als sie sich einmal die Finger am Feuer im Ölpfännchen verbrannte und leise fluchend den Finger in den Mund steckte, legte er seine Hand auf ihre Schulter. » Þetta kemur með tímanum – das wird schon alles.« Wobei unklar war, ob er ihren Finger meinte, dass es bald warm werden würde oder ihre Qualitäten als Ofenhüterin, denn er hatte die Flammen im Nu entzündet, kaum dass er sie beiseitegeschoben hatte.
    » Þetta kemur«, brummte sie nun immer öfter. »Þetta kemur með tímanum...«
    Sie hatte sich eine von Elías’ gehüteten Zeitungen mit ins Zimmer genommen und las stur jeden Tag einen Artikel, ohne auch nur ein Wort zu verstehen.
    »So was lernt man beim Finanzamt«, brummte sie zu sich selber und las laut vor: »›Arni Gunnarsson starb im Alter von 83 Jahren.‹ He – das verstehe ich sogar! Armer alter Arni...« Sie kicherte albern und lutschte versonnen an ihrem Schokoladenstück – einem der letzten aus der Schublade.
    Durch das undichte Fenster zog es kühl – draußen wehte wieder ein richtig heftiger Wind, und der Himmel hatte sich schneeschwanger verdunkelt. Teile der Wolkenwulste hingen auf die Hügel herab wie dicke, gierige Finger. Die Bergspitzen dazwischen schauten noch unfreundlicher als sonst drein. Kein Geräusch störte den Wind in seinem Tun, selbst der Gletscherfluss unten in der Schlucht hielt sich zurück, als hätte er an manchen Tagen kein Recht darauf, herumzulärmen. In Island schien es eine Hierarchie in der Natur zu geben, und jeden Tag hatte eine andere Kraft das Sagen. Heute war es der Wind, morgen schon konnte es ein Schneesturm sein oder ein kleines Erdbeben wie an dem Tag, als sie auf der Insel angekommen war und die Leute in Reykjavík mit besorgten Gesichtern an ihr vorbeigehastet waren. Übermorgen vielleicht schon schwoll der Gletscherfluss an und überschwemmte das Tal. Und riss alles mit sich weg. Und niemand würde sie vermissen. Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr Angst machte ihr die wilde Insel.
    Irgendwie kein Wunder, dass außer Elías niemand in diesem Tal lebte. Wie kam man bloß auf die Idee, sich ausgerechnet hier anzusiedeln? Wie kam man überhaupt auf die Idee, in der Einsamkeit Islands für immer wohnen zu wollen? Ob es außerhalb des Tals wohl schöner war?
    Möglicherweise sah ganz Island so karg und unfreundlich aus wie diese faltigen, braunen Bergrücken, die den Osten der Insel bedeckten und gönnerhaft die kleine Stadt Egilstaðir existieren ließen. Ein Fingerschnipsen, und sie wäre verschwunden – der Mensch war nur zu Gast auf dieser Insel. Sie wurde beherrscht vom Wetter. In jeder Minute des Tages veränderte sich der Himmel, spielte ein Farbdrama nach dem anderen. Was kam wohl danach?!
    Daran wollte sie nicht denken, sonst bekam sie keine Luft. Und ihr Aufenthalt war ja definitiv begrenzt – ein Jahr Auszeit als unbezahlter Urlaub, das war eine absolut überschaubare Sache. Deswegen konnte sie die feindliche Umgebung ruhig einfach ignorieren, es betraf sie ja nicht wirklich. Sollte sie doch feindlich und ungastlich sein, sie schaute sie einfach nicht an. Nur ganz manchmal, wenn ihr das müde Wintergras zu grau vorkam, wünschte sie sich die Farbe Grün herbei. Oder einen Baum und eine Blumenwiese. Fliederduft. Maiglöckchen. Das Gelb von Tulpen. Windstille.
    Lies stand vom Bett auf und öffnete die Schranktür, um sich ihre Fleecejacke zu holen. Der Ölofen erreichte zwar alle umliegenden Räume, aber richtig warm machte das natürlich nicht, und auch die Schafwolle, die sie in die Fensterritzen gestopft hatte, brachte nur wenig mehr Wärme. Lies hockte sich daher oft in ihren dicken Klamotten unter die Decken. Wenn ihr dort die Wärme bis in die Fußspitzen drang, war es nur halb so schlimm, in der grauen Einsamkeit zu hocken. »Na, Hjörvar, alles klar?«, fragte sie gewohnheitsmäßig das Schwarzweißfoto, das sie mit einer Reißzwecke an

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