Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
mit ekelhaftem Dung, den Lies schwer atmend zum Scheunentor hinausfuhr und bei – zur Abwechslung mal wieder – leisem Schneegeniesel auf den Misthaufen kippte. Sie legte den Boden der Box frei – er verriet, dass sich hier schon lange niemand mehr zu schaffen gemacht hatte, denn er bestand in der einen Boxenhälfte aus Holzbohlen, und in der anderen fand sie einen Spaltenboden vor. Sie stocherte in den Ritzen und stach ins Leere. Offenbar war das Loch darunter als Mistgrube gedacht. Naserümpfend und angeekelt schluckend kehrte sie den Holzboden frei. Das Pferd bewegte sich nicht von seinem Platz. »Du findest das auch nicht schön, oder?«, sinnierte sie. »Tja. Und was tun wir jetzt gegen den Gestank?« Sie erinnerte sich an einen kleinen, vergessenen Sandhaufen hinter den Heuballen. Zwei Schubkarren Sand auf dem Bohlenboden ausgekippt, und das Ganze sah ein wenig zivilisierter aus. Und sicher sehr unisländisch, wie sie sich fast schuldbewusst eingestand.
Doch wenn Elías überhaupt mitbekam, was sie sich da für eine Arbeit gesucht hatte, so kommentierte er es nicht – wie gewohnt. Sie war sich jedoch sicher, dass er es merken würde, er kannte jeden Splitter und jeden Halm in seinem Stall.
Als der Mist abgefahren war und die halbe Box in einer fingerdicken Lage gelben Sandes glänzte und Lies die Boxentüre schloss, warf das Pferd sich auf den Boden und wälzte sich, dass es ihr zunächst angst und bange, dann jedoch sehr warm ums Herz wurde, weil es wie ein Stofftier mit untergeklappten Beinen liegen blieb, seinen imposanten Kopf in den Sand bettete und vor sich hin seufzte – diese offensichtliche Zufriedenheit wog die schwere Arbeit auf, und den Gestank vergaß sie gleich wieder.
Hätte ihr vor Wochen jemand gesagt, dass sie sich vis à-vis von einem Pferd mit Kreuzweh und verschrammten Händen über eine schmierige Mistschubkarre gebeugt wohlfühlen würde, sie hätte ihn für vollkommen verrückt gehalten. Über diese Erkenntnis musste sie so laut lachen, dass das Pferd erschrocken innehielt.
Packbiers blasiertes Beamtengesicht verschwand langsam aus ihrem Gedächtnis, und an den Geruch von staubigen Akten konnte sie sich schon nicht mehr erinnern. Manchmal noch kam ihr seine Stimme in den Sinn, blöde Bemerkungen und sein seltsamer Humor: »Frau Odenthal möchte gerne Überstunden machen« oder »Frau Odenthal erfindet gerade das Rad neu, kommen Sie her und schauen Sie sich das an!« … Zahlenreihen. Paragraphennummern, die sie sich beim besten Willen nie hatte merken können. Paragraphen waren Packbiers Steckenpferd, sicher lag daheim in jedem Raum ein Steuergesetzbuch und mindestens drei unter seinem Kopfkissen. Zum hundertsten Mal fragte sie sich, wie in aller Welt sie überhaupt damals auf die Idee gekommen war, eine Ausbildung als Finanzbeamtin zu machen. »Geistige Umnachtung, Frau Odenthal. Sie ticken nicht ganz sauber.« Ihre Stimme hallte im Stall wieder, und ein paar Schafe meckerten wie zur Bestätigung. Lies kicherte. » Helvíti, jæja . Heeeeelvíti.«
Sie stellte fest, dass man sehr gut ohne das alles leben konnte. Ohne die dicken Gesetzesschwarten mit den Eselsohren, die nach feuchten Räumen muffelten. Ohne abgestandenen, bitteren Bürokaffee, ohne das Klappern der Computertastatur. Ohne pappiges Frühstücksbrötchen, wo die Nutella raustropfte, weil es keinen Kühlschrank gab, in dem man Essen aufbewahren konnte. Ohne Telefongeklingel – tatsächlich! Ohne Lästereien bei Grillabenden im Kollegenkreis, ohne peinlichen Jahresausflug mit der Abteilung. Ohne das mulmige Gefühl am Montagmorgen, weil man nicht wusste, was die Woche wieder bringen würde.
Hier war alles so anders – so klar, ganz ohne Buchstaben und Zahlen. Sonnenklar, auch wenn die Sonne eher selten schien. Oder gerade deswegen. Sie begann diese Klarheit, die ihrem Leben bisher offenbar gefehlt hatte, zu lieben...
»War nicht nett von mir, dich Packbier zu nennen«, murmelte sie und stützte die Unterarme auf die Boxentür. Das Pferd spitzte die Ohren – sehen konnte es sie ja unter dem dichten Schopf nicht. »Bist gar nicht so doof wie der. Ich denk mir’nen anderen Namen für dich aus. Versprochen.« Das Pferd nickte wie zur Antwort und schnaubte leise.
Obwohl sie dauernd müde war und die Nächte – hm, gut gesagt, so ohne Dunkelheit – durch die Stallarbeit immer kürzer wurden, bemühte sie sich vor dem Einschlafen, ein paar Vokabeln zu lernen.
Kaffi, Brauð - Kaffee, Brot . Mjólk – Milch .
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