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Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Titel: Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Trodler
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hinuntergelaufen, und ihr erster Gedanke beim Anblick von Egilstaðir war: ›Bin ich auf einer Airbase gelandet?!?‹
    Was für eine Insel.
    Aber nun war sie hier und hatte keinen Durchblick. Dumm gelaufen, Lies Odenthal.
    Ihre einzige Reisevorbereitung für Island war nämlich, wie sie sich voller Scham eingestand, der Kauf von Flugtickets und Fleecepullovern gewesen sowie Silkes Foto, mit dem sie allabendlich eingeschlafen war. Reichlich mager, diese Vorbereitung. Dennoch, dieses Foto hatte sie beschäftigt. Das Foto mit dem roten Haus auf der malerischen Klippe und dem Meer von Wollblumen. Sie hatte es daheim gelassen. Auch dumm, oder weise Voraussicht?
    Auf Gunnarsstaðir gab es nämlich nur gefährliche Klippen statt sanfter Wiesen, das windschiefe Haus war mit rostigem Wellblech verkleidet, das Dach hatte eine undefi nierbare Farbe, und Wollblumen hatte sie auch noch keine gefunden. Und es gab keine anderen Höfe, die so aussahen wie auf dem Foto. Sie waren völlig allein in diesem schmalen Tal.
    Von jenem Tag an schaute sie die erdrückenden Berge nicht mehr an, wenn sie aus dem Haus trat.
     
    Lies hatte auch nur wenig Zeit, Jóis Bücher aufzuschlagen.
    Der Schafstall nahm sie immer mehr in Beschlag, vielleicht weil Elías sich immer mehr von der schweren Arbeit zurückzog. Zuerst machte sie das unglaublich sauer, doch dann besann sie sich, wofür sie eingestellt worden war – man hatte ihr gesagt, dass es sich um landwirtschaftliche Arbeit handeln würde, die für isländische Verhältnisse recht gut bezahlt wurde. Und schließlich war er ein alter Mann. Außerdem tat es unterm Strich gut, bis zur Erschöpfung körperlich zu arbeiten, das schaltete nämlich das Gehirn mit allen blöden Gedanken und Erinnerungen aus. Und genau deswegen war sie ja auch hier.
    Oder wollte sie vielleicht einfach mehr Zeit im Stall verbringen? Flüchtete sie vor dem Wissen, mit den unfreundlichen Bergen und dem noch unfreundlicheren alten Kerl allein zu sein? Manchmal nahm ihr dieses Bewusstsein die Luft. Es war so verflucht eng auf Gunnarsstaðir, draußen vor dem Haus, wo die Berge lauerten, genauso wie im Haus, wo Elías wie ein grimmiger Bär hockte, helvíti auf der Zunge trug und die Welt hasste. Im Stall hingegen fühlte sie sich geborgen, obwohl er so düster und niedrig war – im Vergleich zum Wohnhaus war das ja fast wie ein Mutterleib mit der dunstigen Wärme und der friedlichen Geräuschkulisse.
    Dabei änderte sich nur wenig an der Arbeit, die sie von Tag zu Tag routinierter ausführte. Die erste Runde stand morgens nach dem Frühstück an – da war Elías in der Frühe schon im Stall gewesen und hatte nach dem Rechten gesehen, er schlief ja kaum. Die nächste Runde am Nachmittag, und die längste Runde am Abend, bis in die Nacht hinein. Der Spitz kam inzwischen jedes Mal mit und legte sich brav auf seine Wollecke, ohne sie so drohend anzuknurren, wie er das in den ersten Tagen gemacht hatte. Sie durfte ihn sogar streicheln.
    Lies hatte ihren Ärger und ihre Ungeduld abgelegt. Nichts ging schneller, nur weil man ungeduldig war – und vor allem: Die Zeit lief ja nicht weg auf Gunnarsstaðir. Wohin auch. Die Zeit war immer so lang wie das Tageslicht und wie Elías’ Kaffeepausen, eine andere Zeit gab es nicht. An sonnigen Tagen schien die Zeit intensiver zu sein, sie wärmte und machte die Arbeit heiter – an grauen Tagen schlich sie dahin wie ein magerer Hund, und weil sie nicht vorüberging, saß sie Lies auf der Pelle und biss im Magen, weil es noch Stunden bis zur Pause dauerte. Mehr gab es über die Zeit auf Gunnarsstaðir nicht zu sagen.
    Das Füttern dauerte so lang, wie es eben dauerte, der Arm war nur so stark, wie er eben war, und die Wege, die man mit dem Heu zurücklegte, waren so weit, wie sie eben waren. Lies gewöhnte sich an das schummrige Licht im Stall, und sie stolperte auch nicht mehr so oft, was daran lag, dass sie Bodenunebenheiten mit Erdklumpen ausgebessert und einige unfallträchtig überstehende Bretter an den Boxen einfach abgesägt hatte. Elías hatte sich nicht dazu geäußert.
    Wie denn auch. Er sprach ja kaum.
    Also sprach sie mit sich selber und mit den Tieren. Vielleicht war es das: Vielleicht begann sie, einzelne Schafe zu mögen, nachdem sie gelernt hatte, diese von anderen zu unterscheiden. Begann, länger an den Verschlägen der Mutterschafe zu verweilen, in ihre merkwürdigen gelbgrünen Augen zu schauen, hinter ihren steinernen Stirnen nach etwas zu suchen, was sie von

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