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Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Titel: Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Trodler
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der Hund auf sie zu – wahrscheinlich hatte er das Haus hinter der Diele noch niemals betreten. »Na komm – jetzt machen wir’s anders.« Und den Spitz dicht am Bein, machte sie sich auf, das Haus zu erkunden, als gäbe es etwas, das sie übersehen hatte. Gab es das? Unruhe trieb sie voran. Das Haus war wie sonst. Das gute Zimmer verdunkelt, abgedeckt. Das Bad aufgeräumt. Der Flur kalt und düster. Elías’ Schlafzimmertür unnahbar. Trotzdem öffnete Lies die Tür.
    Die Gardine wehte leicht durch den Luftzug. Alles war aufgeräumt, der Kleiderschrank geschlossen, die Truhe, auf der sonst Kleider lagen, war leer. Erst vorgestern hatte sie den Teppich mit dem altmodischen Staubsauger abgesaugt und die Tagesdecke an einem verrutschten Zipfel geradegezogen, weil sie wusste, dass Elías Falten in der Tagesdecke hasste. Alles sah aus wie sonst, wenn der Alte zu Hause war. Sie sah sich um. Die Nachttischschublade wagte sie nicht aufzuziehen, auch diesmal nicht. Sinnend stand sie vor dem kleinen, verkratzten Möbelstück mit den glänzenden Griffen. Es war doch etwas anders als sonst.
    Der Ring vom Nachttisch war verschwunden.

10. Kapitel
     
    Lies tauchte das Brot in den heißen Kaffee und lutschte darauf herum. Es war hart geworden, gestern hatte sie vergessen, es zu verpacken.
    Das Haus war so still. Nicht mal die Balken knackten wie sonst. Seit Tagen schlich sie nun herum, unruhig wie ein Geist, sie konnte nicht schlafen, machte sich Sorgen um den Alten, und der verschwundene Ehering von Elías ging ihr nicht aus dem Sinn. Er musste ihn übergestreift haben, bevor sie ihn ins Krankenhaus gebracht hatten. Wollte er nicht wiederkommen? Todesahnungen? Wieder stieg ein mulmiges Gefühl ihren Rücken hoch. Warum kam niemand, um mit ihr zu reden, ihr Bescheid zu geben? Keine Nachricht, nichts. Warum hatte er den Ehering mitgenommen...
    Abrupt stand sie auf und holte das Radio von der Fensterbank. Stimmen würden ihr guttun, egal was sie sprachen, Hauptsache, es gab Stimmen im Ohr. An manchen Tagen hatten ihr Einsamkeit und Stille tatsächlich wieder Angst gemacht, wie zu Anfang, als sie hergekommen war.
    Der fréttamaður im Radio brachte Nachrichten aus der Region.
    Runa Einarsdottir aus Vopnafjöður war 101 Jahre alt geworden. Auf der Ringstraße hatten sie eine Kuh totgefahren, und bei Seyðisfjöður war im Schneegestöber ein Auto von der Fahrbahn abgekommen. Die Fähre musste wegen Schneesturms im Hafen liegen bleiben, hundertfünfzig Fährgäste hatten unvorhergesehen übernachten müssen. Die Bäckerei von Seyðisfjöður hatte eine Zusatzschicht eingelegt. Am Schluss erwähnte er beiläufig noch den Irak und ein neuerliches Bombenattentat, doch sie verstand Zahlen noch nicht gut genug, um zu erfassen, wie viele Tote es gegeben hatte. Irak. Wie weit das weg war …
    Lies seufzte. Normalerweise hielt Elías sich das Radio dicht ans Ohr – das war einfacher, als ein Hörgerät anzuschaffen -, sodass sie nichts von den fréttir mitbekam. Sie hätte es doch genießen können, ohne den alten unzufriedenen Kerl Radio zu hören, aber irgendwie klappte das einfach nicht. Nichts konnte sie mehr genießen vor lauter Unruhe, nicht mal der Kaffee schmeckte noch … Was hatte sie bloß die vergangene Woche getrieben? Lies vergrub die Finger in den Haaren und dachte nach. Das Haus war geputzt, die Wäsche gewaschen. Sie hatte ein paar heimgekehrte Schafe am Zaun gefüttert und im Stall herumgekramt. Die Wolle sortiert, Socken fertiggestrickt, und über jeder verlorenen Masche nachgedacht, was das wohl zu bedeuten hatte. Im Haus umhergelaufen, wieder und wieder. Abends Vokabeln gelernt, damit sie Tilli von Höskuldstaðir das nächste Mal eine Antwort ohne Stottern geben konnte. Tilli. Die Erinnerung an Tilli brachte sie auf andere Gedanken, und sie musste lachen. Tilli – lang, dunkel und finster, schweigsam, und wenn er sprach, dann halbe Worte. Tilli wirkte nicht mal so, als könnte er Antworten in ganzen Sätzen geben, und sein Sprechen klang irgendwie improvisiert, dabei war er waschechter Isländer. Ein Wort ohne grammatikalische Endung konnte so falsch nicht sein. Wozu überhaupt diese ganze komplizierte Grammatik, wenn’s auch ohne ging? Sie nahm sich vor, bei der nächsten Gelegenheit mit mehr Mut Isländisch zu sprechen – raus mit den Sätzen, egal, wie falsch, die Isländer konnten es ja wohl auch nicht immer.
    Lies seufzte und starrte die Küchenuhr an. Tod-und-Leben-Tod-und-Leben tickte die.

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