Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
Manchmal brachte der Kaufmann einfach Dinge mit, die es nicht auf Gunnarsstaðir gab, und manchmal fand Elías sogar Gefallen daran. Auf diese Weise hatte sicher auch die Draumur -Schokolade den Weg in die Einsamkeit gefunden. Den Tee hingegen hatte er nicht gemocht und ihn Lies hingeschoben. Und so setzte sie Wasser auf und kochte sich eine Tasse starken, schwarzen Ceylontee, den sie mit Zucker zu einer echten Droge verrührte. Das Klirren des Löffels hatte so etwas Unschuldiges gegenüber dem Lärm, der draußen herrschte: Der Wind nämlich wurde stärker und wehte die Schneeflocken waagerecht am Fenster vorbei. Drüben im Stall standen noch die Türen offen, nachdem sie am Morgen beim Anstreichen gelüftet hatte, damit die Schafe, die bald dort wohnen würden, dem Farbgeruch nicht mehr so ausgesetzt waren. Lies ärgerte sich, dass sie sie eben nicht noch zugemacht hatte, nun würde der gestampfte Lehmboden feucht werden und matschig...
Draußen bellte der Spitz einem Schaf hinterher. Sie spähte aus dem Fenster. Immer mehr von ihnen kamen in den letzten Tagen die Hänge heruntergelaufen. Schnee im August. Im August! Lies fragte sich, wie sie es anstellen sollte, die Schafe aus dem Hochland zurückzuholen. Niemand hatte ihr gesagt, wie. Wie machten das die Leute? Zu Fuß? Mit Motorrädern? Oder gar mit dem Pferd?
Das Pferd. Fröstelnd rieb sie sich die Arme. Das weiße Pferd war auf Höskuldstaðir zurückgeblieben. Sie vermisste seinen wolligen Schopf auf der Wiese und die Renneinlagen, die es allabendlich lieferte, bevor die Sonne unterging. Dann tobte es los, von jetzt auf gleich, rannte bockend über die Grasbuckel, streckte sich, machte sich lang wie ein Panther, dass die Mähne im Wind flatterte und der Schweif wie eine Fahne hinterherschwebte, und lief am Zaun entlang, als freue es sich immer noch, dem düsteren Stall entkommen zu sein und als sei es Teil einer großen Herde, die donnernd und schnaubend wie ein Wesen mit hundert Beinen in die Nacht galoppierte …
Das weiße Pferd fehlte ihr.
Eine sehr stille Woche verging. Das Tal schien sich auf irgendetwas vorzubereiten. Es lag da, schwer atmend und ruhig, selbst der Wind hielt nach den Schneefällen für ein paar Tage inne, wie um auszuruhen, doch für was? Es wurde wieder wärmer, der Schnee schmolz dahin. War nur Spaß , sagte das Wetter. Nur mal gucken, ob’s noch funktioniert, das mit dem Schnee. Schließlich ist es erst August.
Lies wanderte die Wiesen auf und ab. Sie sahen müde und ausgelaugt aus. Müde von einem kurzen Sommer und einem Winterversuch, der abgebrochen worden war – viel mehr als weiße Flecken waren von dem Schnee nicht übriggeblieben. Stirnrunzelnd betrachtete sie die Wollblumen, die als Einzige noch stolz aufrecht standen. Ein paar Mal wagte sie sich an die Klippe heran, um hinunter in die Fluten der Jökulsá zu blicken. Der Fluss wirkte harmlos wie ein Kätzchen und winkte ihr in den letzten Sonnenstrahlen glänzend zu. Komm doch, steig herab! Auch der Stein mit dem Kreuz war wieder zu sehen, weil sich die Gischt verringert hatte. Lange saß sie dort und dachte über diese merkwürdige Geschichte mit Elías, Palli und Anna nach. Ob Elías sich schuldig fühlte? Ob er seine Familie vermisste? Wie fühlte sich wohl eine verlorene Liebe nach fünfzig Jahren an? Tat sie immer noch so weh wie am Tag des Verlustes? Und wie betäubte man den Schmerz? Wie lebte man damit? Half die Einsamkeit dabei? Konnte sie helfen? Lebte er all die Jahre hier, weil sie ihm half – oder weil er hoffte, dass sie ihm helfen würde?
An ihrem Bein knabberte etwas – das schwarze Flaschenlamm, Broðir, war ihr gefolgt. Es lief ihr oft hinterher und war noch zutraulicher als das andere zahme Lamm. Sie fragte sich, wie man so ein Tier eines Tages wohl schlachtete. Erst von Hand aufziehen, dann die Pistole laden. Ari hatte das gekonnt. Sie erinnerte sich, wie nett er mit dem kranken Schaf gewesen war, bevor er ihm das Leben genommen hatte. Lies seufzte und wischte sich über die Stirn. Seltsam, was einem hier an dieser Klippe, wo Leben auf tragische Weise beendet worden war, für Gedanken kamen.
Das Kreuz schimmerte unter Wassertropfen. So hart sie auch auf den Fels prallten, das Kreuz blieb unversehrt, die Geschichte von Palli und Anna gegenwärtig. Zutraulich legte Broðir sich neben Lies ins Gras, knabberte an einem Halm und schaute in die Schlucht hinunter. Und dann meckerte es ganz leise, als spüre es die schwere, bedrückende
Weitere Kostenlose Bücher