Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
Tod-und-Leben-Tod-und-Leben ...
Draußen meckerte einer der Schafböcke – der große mit den schwarzen Hörnern und einem schwarzen Fellfleck auf dem Rücken, gestern hatte er auf einmal vor dem Haus gestanden. Der Fleck sah aus wie ein Sattel, und dieser Bock hatte etwas Wildes, Ungestümes an sich, was sie im Stall schon immer gestört hatte. Seine Stimme war unverkennbar – tief und fordernd. Lies hatte die Schafe, die sich auf der Straße herumtrieben, auf die große Weide gesperrt und den ersten Heuballen in der Scheune geöffnet. Ob man das so machte, wusste sie nicht – sie machte einfach. Im Hochland gab es sicher kein Futter mehr, dass sie nun so freiwillig zum Hof zurückkehrten und sich begeistert auf das Heu stürzten, das sie ihnen hinwarf. Wie sie allerdings die anderen Schafe einsammeln sollte, war ihr schleierhaft.
Und so wartete sie darauf, dass etwas passierte, schaute die Berge gegenüber an, wie sie sich von Tag zu Tag veränderten, ihre herbstliche Farbe verloren, grauer und düsterer wurden und sich daranmachten, das Tal für den Winter immer weiter zusammenzuschieben – nur drüben um die warme Quelle herum war es weiterhin grün, und der Schnee hatte keine Chance, dort liegen zu bleiben. Sie erinnerte sich daran, dass es Zeiten gegeben hatte, wo sie die Berge vor lauter Angst überhaupt nicht hatte anschauen können. Dann waren sie lieblich und hell geworden, ein paar sonnige Sommerwochen lang. Jetzt versuchten sie, ihr düsteres Gesicht wieder aufzusetzen, um Lies einzuschüchtern, doch sie hatte keine Angst mehr vor ihnen. Die Berge gehörten, so hässlich sie waren, zur Familie.
Draußen bellte der Spitz. Komisch. Sie hatte gar kein Auto gehört.
Ein wenig träge drehte sie sich zum Fenster um – und erschrak: Vor der Scheibe blähten sich zwei dunkle Nüstern. Das weiße Pferd stand davor und ließ durch seinen Atem die Scheibe beschlagen. Mit gleißend weißer, aufgewirbelter Mähne und plüschigem Fell stand es da, stolz und stark wie ein Eisprinz. Hinter ihm schnaubte ein dunkleres Exemplar. Jemand beugte sich aus dem Sattel herunter zum Fenster... Klopfte... Lächelte... Winkte... Jói.
»Kommst du mit? Schafe suchen? Es soll heute trocken bleiben.«
Lies wickelte sich die Jacke um den Leib und war unfähig zu sprechen, nicht nur, weil der Wind ihr von vorne ins Gesicht blies. Die Hände hielt sie fest unter die Arme gedrückt, damit sie sich bloß nicht selbstständig machten. Er war gekommen. Endlich. Jói war mit zwei Männern gekommen – Ari ließ das Bein lässig aus seinem Pickup baumeln, auf dem ein staubiges Enduromotorrad festgebunden war, und Tilli saß auf einem schwarzen Pferd mit absurd kurzer Mähne, die ausah, als wäre sie mit angehaltenem Lineal geschnitten worden. Tillis Oberlippe war ordentlich mit Tabak ausgebeult, sicher steckte sein Tagesvorrat dort drin. Zwei Hunde sprangen kläffend durch den Schnee und balgten sich mit dem Spitz, der versuchte, flinker zu sein als die Border Collies, was natürlich nicht der Fall war, weil seine Beine viel kürzer waren als die der beiden eleganten Hütehunde. Doch konnte er als Islandspitz in jedem Fall lauter bellen.
»Na? Kommst du? Wir haben Proviant mitgebracht.« Jóis Stimme lockte. Ach, er hätte sie doch überall hinbekommen, selbst in die Gondel wäre sie sofort noch mal gestiegen, nach dieser einsamen Woche ohne Nachricht von irgendwem …
»Wie geht es Elías? Wisst ihr, wie es ihm geht?«
Tillis dichte Augenbrauen schossen in die Höhe. Es gab wohl nicht so viele Menschen, die sich um Elías Böðvarssons Wohlergehen sorgten – und dann gleich ein ausländisches Au-pair-Mädchen. Oder was die hier war. Au-pair. Und sie sprach Isländisch. Und gar nicht mal so schlecht. Er mümmelte an seinem Tabak herum. Kniff die Augen zusammen und musterte sie genauer aus seiner erhöhten Position. Spuckte braunen Siff auf den Boden. Was war sie wohl? Für ein Au-pair war sie doch zu alt.
»Elías geht es gut – sie bringen ihn morgen nach Hause.« Jói beendete das Starke-Männer-Spiel und stieg ab, Tilli blieb sitzen und spie weiter Tabakstücke in den Schnee.
»Geht’s dir gut?« Jóis Augen leuchteten, oder war das der nachtschwarze Overall, der ihre Farbe verstärkte? Er trat noch einen Schritt auf sie zu, und sie glaubte, in seiner Nähe das Gleichgewicht zu verlieren. Krampfhaft hielt sie sich an ihren Jackenzipfeln fest und fühlte sich albern. »Ich hab gehört, du bist tapfer auf einem Pferd
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