Der letzte Paladin: Historischer Roman (German Edition)
einen Sonnenstrahl ein und blitzte plötzlich auf. Roland versuchte sich vorzustellen, wie das Bild, das er zu gestalten versucht hatte, auf die Vasconen wirkte.
Das unwegsame Gelände vor der Stadt; die vom Sommer dürre, in der Hitze wabernde Landschaft aus goldenem Gras, dunklem Wald und dem beinernen Weiß der Felsen dahinter, die sich in immer höher aufsteigenden Bergketten auftürmten bis zur Passhöhe hinauf; die weit zurückgenommene Masse des restlichen fränkischen Heers, bunt und metallglitzernd, winzig klein in der Entfernung; der dunkelblaue Himmel, der sich über allem wölbte und in dessen Zentrum die Stadt auf ihrem unzugänglichen Felsplateau hockte; und mitten darin, mit pathetischer Opferbereitschaft: der kurze, nur zwei Reihen tiefe Schildwall aus zweihundert Kriegern. Sie mussten wirken wie Schiffbrüchige in einem zu Stein erstarrten Meer, die resigniert hatten und darauf warteten, dass die Raubfische sie holten. Sie mussten wirken wie etwas, das man mit einem nachlässigen Wischen der Hand von der Tischfläche kehrte. Sie mussten so jämmerlich wirken, dass sie eine größere Beleidigung für die Verteidiger der Stadt darstellten als alle vorhergehenden Versuche, sie aus der Reserve zu locken.
Roland holte Luft. Iruña lag in ein paar hundert Schritten Entfernung vor ihm, geduckt, wehrbereit und stolz. Wo die ehemals römischen Wehrmauern zusammengebrochen waren, hatten die Einwohner der Stadt mächtige Erdwälle aufgeschüttet und mit Pfosten und Steinen verfestigt. Über den tiefen Schluchten, als die die Torzugänge angelegt waren, hockten die hölzernen Torbauten, bunt bemalt, flatternd vor Wimpeln und Fahnen. Einzelne weiß leuchtende Dachfirste und Architrave aus Stein waren über dem Mauerkranz zu sehen – die alten römischen Gebäude. Die Giebel von Holzhäusern, die dazwischen standen und von den Vasconen erbaut worden waren, schimmerten verwittert silbern und schwarz, wo sie nicht ebenfalls bunt bemalt waren. Die Berge erhoben sich dahinter im Mittagsdunst. Die wilde, trotzige Schönheit ließ Roland den Atem ein paar Herzschläge lang anhalten, bis er das Blut in seinen Ohren rauschen hörte. Von der Stadt war kein Laut zu hören, und auch nicht aus dem Schildwall. Roland hatte allen Kriegern verboten, Schmährufe auszustoßen. Er wollte, dass das Schweigen ihre Feinde noch rasender machen würde. Der Wind zerrte an seinem Helmbusch, an seinem Mantel. Der schwarz-weiße Schild in seiner Linken war plötzlich schwer, und noch schwerer war Durendal in seiner Rechten. Er packte das Schwert fester.
Dann wandte er sich an den Centenarius, der ihm zunächst stand. »Jetzt«, stieß er hervor.
Der Centenarius nickte seinem Standartenträger zu, und dieser hob die Lanze so hoch er konnte und ließ sie dann mit einer plötzlichen Bewegung nach vorn kippen. Roland fühlte sein Herz bis in seinen Hals pochen. Jetzt begann der Teil seines Planes, den er dem König verschwiegen hatte, und es gab drei Möglichkeiten, wie der Tag endete: mit Rolands Triumph, wenn der Plan Erfolg hatte, mit Rolands Tod, wenn er fehlschlug, oder mit Rolands Schande, wenn er fehlschlug und Roland überlebte. Er hatte eine Chance von eins gegen drei. Das musste genügen.
Turpin kniff die Augen zusammen und versuchte zu erkennen, was bei Rolands Schildwall vor sich ging. Er hasste es zuzugeben, dass er nicht mehr gut genug sah. Schließlich wandte er sich doch an Anskar.
»Seh ich das richtig? Er hatte doch gesagt, er wolle keine Reiterei!«
Anskar brummte zustimmend. »Trotzdem sind das gut hundert Scariti, die da aus dem Geländeeinschnitt galoppieren. Das sind entweder Otkers oder Beggos … Nein, da kommen nochmal so viele. Er hat Otker und Beggo um Unterstützung gebeten.«
»Ich frage mich, was das jetzt soll?«, knurrte Turpin ratlos. »Wenn die Vasconen die Panzerreiter sehen, lassen sie sich nicht zum Kampf hinreißen. Hat der Junge am Ende Angst vor seiner eigenen Courage …«
Anskar pfiff durch die Zähne. »Heiliger Thor«, stieß er hervor.
»Was!?«
»Die erste Schar steigt ab und … reiht sich in den Schildwall ein!« Anskar klang fassungslos. »Reiter im Schildwall? Die sind doch da völlig fehl am Platz! Der Schildwall wird nicht halten!« Turpin richtete sich im Sattel auf. Ihm schien, dass die zweite Schar die nun reiterlosen Pferde in Empfang nahm und wegführte, aber dann wurde der Staub über dem Geschehen so dicht, dass er gar nichts mehr sah. Unwillkürlich drehte er sich zu
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