Der letzte Paladin: Historischer Roman (German Edition)
müssen, dass ich besser bin als du?«, fragte Roland. Das Publikum lachte lauter. Puvis bleckte die Zähne in einem verächtlichen Grinsen.
Roland hob den Speer und wog ihn in der Hand. Es war ein Jagdspeer mit harter Spitze und ohne die Widerhaken, die den Ango, den kriegerischen Wurfspeer der fränkischen Fußsoldaten, auszeichneten. Der Ango war schwer, weil er nur über kurze Distanzen geschleudert wurde, da er den Gegner mit seiner biegsamen Metallspitze vor allem außer Gefecht setzen sollte, auch wenn der Treffer nicht tödlich war. Der Jagdspeer war im Vergleich dazu leicht und schlank, doch auch für ihn waren die über hundert Schritte bis zur Kirche eine mörderische Distanz. Der Spieß, den Puvis geworfen hatte, steckte auf halber Mannshöhe zwischen den Steinen. Es hatte nicht viel gefehlt, und er wäre im Boden vor der Kirche steckengeblieben, ohne sein Ziel zu erreichen. Roland war zwar größer als alle anderen um ihn herum – er schien seines Onkels Karl Veranlagung zu hohem Körperwuchs mitbekommen zu haben – aber seine größere Reichweite wurde durch sein geringeres Gewicht zunichtegemacht. Puvis mochte gut und gern eineinhalb Mal so schwer sein wie er, er war der typische stämmige, stiernackige Frankenkrieger mit stahlharten Muskeln unter den Speckschichten. Wie sollte er, Roland, hoffen, es Puvis nicht nur gleichzutun, sondern ihn sogar noch zu übertreffen?
Herausforderungen waren unter den Frankenkriegern an der Tagesordnung. Ständig versuchte jemand zu beweisen, dass er besser war als ein anderer. In einer Gesellschaft, in der selbst der König nur Respekt genoss, wenn er erfolgreich war, gehörte der Wettbewerb zum normalen Leben. Und er, Roland, wurde ständig herausgefordert. Was Remi in seiner freundschaftlichen Art versäumt hatte zu erwähnen war der dritte Grund dafür: Sein Onkel mochte ihn zwar rein rechtlich als vollwertigen Franken anerkannt haben, aber die Krieger aus seiner Gefolgschaft zwangen ihn ständig immer wieder dazu, sich dieser Würde gewachsen zu zeigen.
Und so hatte Puvis, der jüngere Bruder von Gerbert de Rosselló, einem der weithin gerühmten Paladine des Königs, Roland zu einem Duell im Speerweitwurf herausgefordert. Die meisten Duelle unter den Franken begannen auf diese Weise: ein sportlicher Zweikampf, bei dem sich die Kontrahenten kein Haar krümmten. Zur Sache ging es erst hinterher, wenn die beiden Lager der Duellanten das Ergebnis anzweifelten, Betrugsverdacht anmeldeten und dann glücklich fäusteschwingend übereinander herfielen. Roland wog den Speer erneut und ermaß die Entfernung zur Kirchenmauer. Er hatte einen Versuch – und keine Chance.
Kurz entschlossen rammte er den Speer in den Boden und schritt davon. Puvis und Remi waren gleichermaßen sprachlos. Die Zuschauer johlten und pfiffen. Die Mehrzahl der Händler verzog missmutig das Gesicht; sie hatten allesamt auf Roland gewettet.
»Er gibt auf!«, schrie Puvis. »Damit hab ich gewonnen! Habt ihr es alle gesehen? Ich hab gewonnen. Roland ist ein Versager!«
Remi ballte die Fäuste. »Sag das nochmal, und ich polier dir so die Schnauze, dass dich dein eigener Hund nicht mehr erkennt!«
»Roland ist ein …«
»Was regst du dich so auf?«, fragte Roland, der durch eine Gasse in den Zuschauern wieder herangeschlendert kam. »Ich hab mir nur einen Speer geholt, der besser zu meinem Wurfstil passt.«
Die Umstehenden gafften. Was Roland geholt hatte, war die schwere Reiterlanze eines der Wächter, die beim Tor der Burg standen. Die Lanze maß fast zwei Mannslängen und war nicht zum Werfen gedacht, sondern um damit einen gegnerischen Reiter aus dem Sattel zu stoßen. Ihr Schaft war viel dicker als der eines Speers und in der Mitte mit Lederbändern straff umwickelt, wo man sie hielt und unter den Arm klemmte.
Roland deutete auf Puvis’ Speer weit vorne in der Kirchenmauer. »Das soll ein Speer sein?«, rief er. Er hob seine Lanze hoch. » Das ist ein Speer!«
Das Johlen der Zuschauer war unbeschreiblich. Puvis traten die Augen hervor. Die Händler holten weitere Münzen aus ihren Beuteln und errechneten hektisch neue Wettraten; mittlerweile hatten sich ihnen etliche Krieger und Handwerker angeschlossen. Roland stellte sich in Positur.
»Du bist verrückt«, raunte Remi, der an Rolands Seite getreten war.
»Wenn du keine Chance hast, dann verdopple den Einsatz«, murmelte Roland zurück. Er legte den Lanzenschaft auf die Schulter, wechselte den Griff, bis er zufrieden war,
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