Der letzte Paladin: Historischer Roman (German Edition)
einfach über den Abbruch geworfen, an eine Stelle am Fuß des Abhangs, den man vom Wehrgang der Burg aus nicht sehen konnte. Es hätte schon jemand an der Kante des Felsabbruchs patrouillieren müssen, ein paar Dutzend Schritte außerhalb der Palisade.
Arima packte nacktes Entsetzen, als sie ihre Blicke über die Szenerie schweifen ließ. Die meisten Toten waren übereinandergefallen, mit verrenkten Gliedmaßen, die Kleidung dunkel von Blut. Einige waren in ihrem Sturz von Bäumen abgefangen worden. Ein Toter lag nur ein paar Schritte von Arima, Ealhwine und dem Scharführer entfernt. Sein Gesicht war unverletzt und nicht allzu sehr von Blut entstellt. Die halboffenen Augen starrten in den Nachthimmel, die Haut leuchtete fast weiß. Es war ein älterer Mann – der Hundeführer von Comes Sanche, der sich nie sicher gewesen war, ob die Hunde nach dem Tod des Comes ihm alleine gehorchen würden. Arima musste die Gesichter der anderen Toten nicht sehen, um zu wissen, dass hier der größte Teil des Gesindes und die Waffenknechte von Burg Roncevaux lagen. Die Raben waren mit Einbruch der Dunkelheit verschwunden, aber es war, als ob der Totengestank bis nach Roncevaux gestiegen wäre: Arima hörte ganz leise das rastlose Jaulen und Jappen der Hunde. Die Eroberer der Burg hatten sie am Leben gelassen. Sie waren wertvoller als die Menschen, die zur Burg gehört hatten.
Arima liefen Tränen über die Wangen. So viele Tote – und wer am Leben gelassen worden war, diente jetzt den Eroberern als Sklave. Arima machte sich keine Illusionen, was den Frauen und Mädchen ihres Gesindes widerfuhr. Die Toten waren, soweit es sich erkennen ließ, fast alle männlichen Geschlechts – einschließlich des kleinen Jungen, dessen Leiche von einem Baum aufgefangen worden war und nun dort oben hing wie eine schreckliche, traurige Obszönität.
Und doch war auch das noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war die bizarre Gestalt, die sich in dem Leichenhaufen zu schaffen machte und mit dumpfer Stimme etwas flüsterte, das Arima nicht verstehen konnte. Ealhwine murmelte ein Gebet. Der Decanus hatte hervorgestoßen: »Herr im Himmel! Ein Dämon!« und war dann verstummt.
Ealhwine beendete sein Gebet. »Was ist das für ein Wesen?«, fragte er, seine Stimme schwankend und heiser.
Die furchterregende Gestalt zerrte die Leichen hin und her. Auf ihrem Rücken bewegte sich etwas wie lange, gefaltete Flügel, sein Gesicht war nicht zu erkennen, aber es schien, als würden sich Schlangen darum herumwinden. Das Flüstern war so dumpf, als käme es hinter einem dichten Haarpelz hervor. Hinter der Deckung eines Baumstamms hervor beobachteten sie, wie das Wesen sich bückte, einen Leichnam hervorzog, anstarrte und wieder fallen ließ. Vom Kopf des Leichnams hing langes, verklumptes Haar – eine der wenigen Frauen, die dem Angriff zum Opfer gefallen waren. Von weit oben ertönte noch immer das Jaulen der Hunde, ansonsten war Burg Roncevaux so stumm wie der Friedhof hier unten.
In ihrer Trauer und Wut hatte Arima nur ein Ziel: das Wesen, das die Leichen ihrer Gefolgsleute schändete, zu verscheuchen. Sie ballte eine Faust und war schon ein paar Schritte aus ihrer Deckung heraus, Ealhwine an ihrer Seite, bevor der in Entsetzen erstarrte Decanus reagieren konnte.
»Herrin …«, zischte er und verstummte dann so abrupt, dass Arima sich zu ihm umdrehte.
Der Krieger war ihr und Ealhwine nachgeeilt. Jetzt stand er stocksteif da, weil eine Gestalt hinter ihn getreten war und ihm eine Klinge an den Hals presste.
Die Gestalt spähte hinter dem Decanus hervor. Arimas Kopftuch war schon lange heruntergerutscht und offenbarte ihr zerzaustes Haar und ihr Gesicht. »Arima Garcez?«, fragte der Angreifer ungläubig. Dann rief er halblaut: »O Wodan, Herr, hier ist Arima!«
Arima wirbelte herum. Das Wesen in dem Leichenhaufen hatte innegehalten und sich aufgerichtet. Mond- und Sternenlicht fielen auf seine Umrisse. Was wie gefaltete Schwingen ausgesehen hatte, war ein dunkler Umhang, was wie sich windende Schlangen gewirkt hatte, waren sein langes, aufgelöstes Haar und die Binden des Turbans, die gegen den Gestank um das Gesicht gewickelt waren. Arima fühlte ihre Knie nachgeben. Sie musste sich gegen Ealhwine lehnen.
Dann war Afdza bei ihr und hielt sie im Arm, und trotz des Leichengeruchs, der ihn umgab, nahm sie seinen Duft wahr, und trotz seines Zitterns ließ die Kraft, mit der er sie an sich drückte, ihr den Atem ausgehen. Sie schlang die Arme
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