Der letzte Polizist: Roman (German Edition)
Stille der Lobby, der alte Mann schaut mich geistesabwesend an, geneigter Kopf, entrückter Blick, als wäre ich ein Ausstellungsstück in einer Museumsvitrine. Dann danke ich ihm, stecke mein blaues Buch und meinen Kuli ein und trete auf den Bürgersteig hinaus. Schnee fällt auf den roten Backstein und den Sandstein der Innenstadt, und ich stehe eine Sekunde lang da und sehe alles vor meinem geistigen Auge wie einen Film: Der schüchterne, unbeholfene Mann in dem zerknitterten braunen Anzug, der auf dem Beifahrersitz eines glänzenden roten Pick-up mit aufgemotztem Motor Platz nimmt und in die letzten Stunden seines Lebens entschwindet.
3
Früher hatte ich oft einen Traum, ziemlich regelmäßig ein- oder zweimal pro Woche, bis zurück zu meinem zwölften Lebensjahr.
Eine wichtige Rolle spielte darin die imposante Gestalt von Ryan J. Ordler, dem – schon damals – langjährigen Polizeichef von Concord, den ich im richtigen Leben jeden Sommer beim Polizei-Picknick für Angehörige und Freunde sah, wo er mir unbeholfen die Haare zerzauste und einen Büffel-Nickel zuwarf, so wie allen anwesenden Kindern. In dem Traum steht Ordler in Galauniform und strammer Haltung da, eine Bibel in der Hand, auf die ich die rechte Hand lege, die Handfläche nach unten, und ich wiederhole, was er mir vorspricht – ich gelobe, dem Gesetz Geltung zu verschaffen und es zu hüten –, und dann überreicht er mir feierlich meine Waffe und meine Marke, ich salutiere, er salutiert ebenfalls, die Musik schwillt an – der Traum ist mit Musik –, und ich bin Detective.
Im richtigen Leben kam ich Ende letzten Jahres an einem klirrend kalten Morgen um halb zehn ins Revier zurück, nachdem ich eine lange Nacht im Sektor eins Streife gefahren war, und fand in meinem Spind eine handschriftliche Anweisung, mich im Büro der DCA zu melden. Ich ging in den Pausenraum, spritzte mir Wasser ins Gesicht und lief die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal. Die damalige Deputy Chief of Administration – die Leiterin der Polizeiverwaltung – war Lieutenant Irina Paul, die den Posten nach dem abrupten Abgang von Lieutenant Irvin Moss erst seit etwas mehr als sechs Wochen innehatte.
»Guten Morgen, Ma’am«, sage ich. »Brauchen Sie etwas?«
»Ja«, sagt Lieutenant Paul, blickt auf und schaut dann wieder auf das hinab, was vor ihr liegt, eine dicke schwarze Aktenmappe, auf deren Rücken mit Schablone U.S. DEPARTMENT OF JUSTICE geschrieben steht. »Sekunde noch, Officer.«
»Klar«, sage ich und schaue mich um, und dann kommt vom anderen Ende des Büros eine andere Stimme, tief und dröhnend: »Mein Sohn.«
Es ist Chief Ordler, in Uniform, aber ohne Krawatte, mit offenem Kragen, ins Halbdunkel am einzigen Fenster des kleinen Büros gehüllt, die Arme verschränkt, eine stä mmige menschliche Eiche. Eine Woge der Beklommenheit spült über mich hinweg, mein Rückgrat richtet sich auf, und ich sage: »Morgen, Sir.«
»Okay, junger Mann«, sagt Lieutenant Paul, und der Chief nickt unmerklich, sanft, und bedeutet mir mit einer Kopfbewegung zur DCA , dass ich ihr meine Aufmerksamkeit schenken soll. »Also. Vor zwei Tagen waren Sie nachts an einem Vorfall unten im Keller beteiligt.«
»Was … Oh.«
Ich erröte und fange an zu erklären: »Einer der Neuen – der Neueren, sollte ich sagen …« – ich bin ja selbst erst seit sechzehn Monaten bei der Truppe – »… einer der Neueren hat einen Verdächtigen nach Titel XVI in Vorbeugehaft genommen. Einen Stadtstreicher. Das heißt, eine obdachlose Person.«
»Richtig«, sagt Paul, und ich sehe, dass sie einen Bericht über den Vorfall vor sich liegen hat, und das gefällt mir überhaupt nicht. Ich schwitze jetzt, schwitze im wahrsten Sinne des Wortes in dem kalten Büro.
»Und er – der Officer, meine ich – beschimpfte den Verdächtigen auf eine Art, die mir unangemessen und nicht den Richtlinien des Departments entsprechend erschien.«
»Und da haben Sie es für geboten gehalten, sich einzumischen. Und … wie heißt es hier«, und sie senkt den B lick wieder auf ihren Schreibtisch, blättert das rosafarben e Durchschlagpapier des Berichts um, »und die relevanten Vorschriften auf aggressive und drohende Art zu zitieren.«
»Ich weiß nicht, ob ich es so ausdrücken würde.« Ich werfe einen Blick zum Chief, aber er sieht Lieutenant Paul an. Ihre Show.
»Es ist nur … zufällig kenne ich den Gentleman – Verzeihung, den Verdächtigen, sollte ich sagen. Duane S hepherd, weiß,
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