Der letzte Polizist: Roman (German Edition)
benutzen, läuft alles ja nur noch mit Papier. Gompers hat sich dieses ganze nervtötende System ausgedacht. Oder vielleicht war es auch das Regionalbüro, ich weiß es nicht. Aber am Tagesende wandert alles, woran man gerade arbeitet, immer in die Aktenschränke zurück. Morgens holt man es sich dann wieder raus.«
»Ist es nach Bearbeitern abgelegt?«
»Was meinen Sie?«
»Stünden Peters Akten alle beisammen?«
»Hm. Wissen Sie … keine Ahnung.«
»Okay«, sage ich grinsend, meine Wangen sind gerötet, meine Augen blitzen. »Das gefällt mir. Das ist gut.«
»Sie sind wirklich ein komischer Typ«, erwidert sie, und ich kann irgendwie nicht glauben, dass sie real ist, dass sie in meinem Haus, auf meinem schrottigen alten Campingstuhl sitzt, in ihrem roten Kleid mit den schwarzen Knöpfen.
»Doch, es gefällt mir. Vielleicht wechsle ich noch mal den Beruf«, sage ich. »Versuche mein Glück in der Versicherungsbranche. Ich habe ja noch den Rest meines Lebens vor mir, nicht wahr?«
Naomi lacht nicht. Sie steht auf. »Nein. Nein. Sie nicht. Sie sind durch und durch Polizist, Hank.« Sie sieht zu mir hoch, schaut mir direkt ins Gesicht, und ich bücke mich ein wenig und erwidere ihren Blick, und plötzlich überfällt mich der wilde, schmerzhafte Gedanke, dass es das ist. Ich werde mich nie wieder verlieben. Dies wird das letzte Mal sein.
»Wenn der Asteroid runterkommt, werden Sie mit ausgestreckter Hand dastehen und rufen: Halt! Polizei! «
Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll, wirklich nicht.
Ich bücke mich noch etwas mehr, sie dreht das Gesicht nach oben, und wir küssen uns sehr langsam, als hätten wir alle Zeit der Welt. Mitten in dem Kuss tappt der Hund herein, schmiegt sich an mein Bein, und ich schubse ihn sanft weg. Naomi hebt die Hand und legt sie mir um den Hals, ihre Finger wandern unter meinen Hemdkragen.
Als wir mit dem Kuss fertig sind, küssen wir uns erneut, diesmal heftiger, ein Ansturm drängender Gefühle, und als wir uns wieder voneinander lösen, schlägt Naomi vor, dass wir ins Schlafzimmer gehen, und ich entschuldige mich, weil ich nur eine Matratze auf dem Fußboden habe und kein richtiges Bett. Ich bin noch nicht dazu gekommen, mir eins zu kaufen, und sie fragt, wie lange ich hier schon wohne, und ich sage, fünf Jahre.
»Dann wird’s wahrscheinlich auch nichts mehr mit dem Bett«, sagt sie leise, zieht mich an sich, und ich flüstere: »Da hast du wahrscheinlich recht«, und ziehe sie runter.
Viel später, in der Dunkelheit, als der Schlaf in unsere Augenlider zu sickern beginnt, frage ich Naomi leise: »Was für Gedichte?«
»Villanellen«, antwortet sie ebenso leise, und ich sage, dass ich nicht weiß, was das ist.
»Eine Villanella ist ein neunzehnzeiliges Gedicht«, murmelt sie, immer noch mit gedämpfter Stimme, gegen meinen Hals. »Fünf Terzinen aus jeweils drei gereimten Zeilen. Und die erste und letzte Zeile der ersten Terzine tauchen im Verlauf des Gedichts immer wieder auf, als letzte Zeile jeder folgenden Terzine.«
»Okay«, sage ich, ohne das alles so richtig zu registrieren, mehr auf die sanfte, elektrische Präsenz ihrer Lippen an meinem Hals konzentriert.
»Sie endet mit einem Quartett, also vier gereimten Zeilen, wobei sich in den letzten beiden Zeilen erneut die Anfangs- und Schlusszeile der ersten Terzine wiederholen.«
»Aha«, sage ich, und dann: »Ich werde ein Beispiel brauchen.«
»Es gibt viele sehr gute.«
»Sag mir eine von denen auf, die du schreibst.«
Ihr Lachen ist eine kleine warme Bö gegen mein Schlüsselbein. »Ich schreibe nur eine, und die ist noch nicht fertig.«
»Du schreibst nur eine?«
»Eine großartige. Vor dem Oktober. Das ist mein Plan.«
»Oh.«
Dann liegen wir einen Moment lang still und reglos da.
»Hör zu«, sagt sie. »Ich sage dir eine berühmte auf.«
»Die berühmte will ich nicht. Ich will deine.«
»Sie ist von Dylan Thomas. Wahrscheinlich hast du schon von ihr gehört. Sie stand in letzter Zeit oft in der Zeitung.«
Ich schüttle den Kopf. »Ich versuche, nicht allzu viel Zeitung zu lesen.«
»Du bist ein komischer Kerl, Henry Palace.«
»Das höre ich öfter.«
Irgendwann spät, spät in der Nacht erwache ich langsam, und Naomi steht im Türrahmen, nur in ihrer Unterwäsche, und zieht sich das rote Kleid über den Kopf. Sie sieht, dass ich sie beobachte, und hält inne, lächelt ungeniert und zieht sich fertig an. Selbst im bleichen Licht aus der Diele sehe ich, dass sie sich den
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