Der letzte Schattenschnitzer
verbliebenen Titel sollten, damit sie auch fortan ihrem Wert entsprechend behandelt wurden, unter einigen auserwählten Personen versteigert werden. Noch bevor Edward Lysander Meredith kalt gewesen war, hatte sein Nachlassverwalter – nicht zuletzt seiner Prozente wegen – jenem kleinen Kreis aus Museumsvertretern, Sammlern und Privatiers die Liste der zu versteigernden Bücher zugespielt.
Sobald die sterblichen Überreste seines Herrn New Alexandria verlassen hatten, würden die Bücher seines inneren Heiligtums vor Ort unter den Hammer komme. Noch aber ruhte Meredith, zwischen fliederfarbenen Kissen aufgebahrt, in einem Sarg aus dem gleichen Kirschbaumholz, aus dem die Regale im Herzen der Bibliothek gemacht waren. Inmitten seiner Bücher und im Schatten einer Statue des Heiligen Laurentius, des Schutzheiligen aller Bibliothekare. In den hölzernen Heiligenschein der Figur standen die Worte Libri amici, libri magistri geschnitzt. Bücher sind Freunde, Bücher sind Lehrer. Das Lebensmotto des Herrn von New Alexandria .
Während die kleine Welt der wirklich Bibliophilen in Aufruhr war und Büchernarren in aller Welt ihre Ersparnisse zusammenkratzten, um Meredith Hall zumindest ein Buch abzutrotzen, scherte einer dort sich herzlich wenig um die Zukunft der Regale: Jeremy Bradshaw. Er saß im Keller des Hauses, in einem Raum, in dem er während der vergangenen zehn Jahre den Großteil seiner Zeit verbracht hatte. Er hockte dort vor der kleinen Monitorwand, von der die Flure und Räume des Hauses auf ihn herabflimmerten. Die Bildschirme zeigten ausnahmslos Regale mit Büchern. Bilder, die für einen Außenstehenden nicht zu unterscheiden gewesen wären. Teilnahmslos betrachtete der untersetzte Mann die Monitore, rückte seine Brille zurecht und schlang beiläufig den Rest eines Butterbrotes herunter. Bradshaw war genau der richtige Mann für den Job im Keller. Die Sicherheitsfirma hätte ihn kaum anderswo sinnvoll einsetzen können. Seine Körpergröße lag mit 1,75 Metern zehn Zentimeter unter den Mindestanforderungen, die Uniform hatte seiner Figur wegen eigens geschneidert werden müssen, und wahrscheinlich hätte ihm – Uniform und Waffe zum Trotz – nicht einmal ein aufmüpfiger Zwölfjähriger Respekt entgegengebracht.
Aber für einen gemütlichen Brillenträger, der zugleich der Schwager des Betreibers der Sicherheitsfirma war, stellte die Überwachung von Meredith Hall eine angemessene Aufgabe dar. Hier konnte Bradshaw einerseits sein Geld verdienen und andererseits keinen Schaden anrichten.
Schnaufend, aber ohne dabei die Bildschirme aus den Augen zu lassen, zerrte der Wachmann seinen Rucksack unter dem Stuhl hervor. Zwei der Monitore waren dunkel. Aus Gründen der Pietät. Damit Meredith ein letztes Mal mit seinen Büchern allein sein konnte und Bradshaw nicht die ganze Nacht über eine Leiche anstarren musste, hatte er die Kameras in der Bibliothek einfach abgeschaltet. Zumal ohnehin nicht zu befürchten stand, dass etwas passierte. Denn abgesehen davon, dass hier noch nie irgendetwas passiert war, konnte Bradshaw sich nicht vorstellen, dass überhaupt irgendjemand auf die Idee kam, Bücher zu stehlen. Zudem bedeutete Merediths Tod für Bradshaw ohnehin das Ende seines Arbeitsverhältnisses. Sobald der Alte das Haus mit den Füßen voran verlassen hatte, würde auch er gehen müssen. Und er wusste selbst, wie lange es dauern konnte, bis sein Schwager einen neuen Job für ihn fand. Man hatte ihm bereits mitgeteilt, wie es laufen würde. Der Nachlass des Alten würde verteilt und versteigert und Meredith Hall innerhalb der kommenden Monate Firmensitz einer renommierten Immobilienfirma werden.
Und so war dies Jeremy Bradshaws letzte Nacht in New Alexandria, weshalb er auch keine Konsequenzen zu fürchten brauchte, wenn er gegen die Regeln verstieß … Er öffnete seinen Rucksack und zog zwei Dosen Bier hervor, die er lächelnd vor sich auf den Schreibtisch stellte. Dann griff er noch einmal hinein und hielt kurz darauf eine Zigarre in der Hand. Er würde sie rauchen, auch wenn es in diesem Haus noch so verboten war. Dies war seine letzte Nacht. Nach zehn Jahren, in denen er ohne ein Wort des Dankes oder eine freundliche Geste von dem alten Grantelgreis dessen wurmstichige Schwarten bewacht hatte. Während der Alte heute Nacht über ihm verrottete, würde Jeremy Bradshaw Spaß haben. Und das würde er sich, verdammt noch mal, nicht verbieten lassen. Von niemandem.
Grinsend streifte er seine Schuhe
Weitere Kostenlose Bücher