Der letzte Schattenschnitzer
Regale aus hellem, rotem Kirschholz. Sie erstreckten sich von der Empfangshalle bis auf den Dachboden und bogen sich unter dem Gewicht unzähliger alter Bücher. Eingedenk der legendären Bibliothek von Alexandria pflegten fanatische Büchersammler das Haus hinter vorgehaltener Hand ehrfürchtig New Alexandria zu nennen, war es doch nicht weniger als eine einzige riesige Bibliothek, wie es sie auf der Welt kein zweites Mal gab.
Der verstorbene Edward Lysander Meredith war ein Sammler gewesen, und sein Ehrgeiz grenzenlos. Im Laufe der vergangenen siebzig Jahre hatte er die Sammlungen Churchills und des Buckingham Palastes aufgekauft. Auf der Suche nach bedeutenden Büchern hatten seine Mittelsmänner weltweit Museen, Universitäten und Auktionen geplündert. Und dementsprechend hatte Meredith am Ende seines Lebens beinahe jedes wertvolle Buch besessen, das je irgendwo zum Verkauf gestanden hatte, und genaugenommen auch einige, die niemals käuflich zu erwerben gewesen waren. Dennoch hatte er letztlich nicht alle seine Ziele erreichen können: Einige wenige Bücher hatte er nie zu Gesicht bekommen. Vor allem bedeutende Werke der praktischen Magie, um die er sich zwar mehrfach bemüht hatte, die aber von Eingeweihten gehütet wurden, die sich nicht um Merediths Geld geschert hatten. Und so war auch sein größter Traum, nämlich vor seinem Tod einmal das unmögliche Buch, das Tintenlose, die legendäre Alchimia Umbrarum John Dees zu Gesicht zu bekommen, unerfüllt geblieben.
Zeitlebens hatte Meredith sich für nichts anderes als seine Bibliothek interessiert und das Erbe seines Vaters, eines britischen Tee-Magnaten, allein mit dem Ziel eingesetzt, seine einzigartige Sammlung aufzubauen. So verströmten die papierenen Innereien von Meredith Hall jenen eigentümlichen Geruch aus Wissen und Moder, während seine tatsächliche Bibliothek, in der sich die mit Abstand wertvollsten Schriften fanden, einem inneren Heiligtum gleich. Hier fanden sich Bücher, von deren Existenz nur wenige überhaupt wussten. Titel, die seit Jahrhunderten als verschollen galten.
Da fand sich eine der letzten Bibeln aus Gutenbergs erstem Druck, beide Bände von Websters ursprünglichem American Dictionary und auf einer Reihe von Regalen der größte Teil der Schriften von der römischen Liste.
Hier, im Inneren des Heiligtums, wo sich verschlissene Holzbünde an vernarbte Ledereinbände reihten und alchemistische Traktate neben wissenschaftlichen Abhandlungen standen, fanden sich Herodots Historien neben Platons Dialogen und von Junzts Unaussprechliche Kulte neben den Werken Ludwig Prinns – einige Bücher in diesem Hort alter Inkunabeln und Folianten waren ihr Gewicht in Gold wert.
Seit ihrem Bestehen hatte es in dieser Bibliothek eine Regel gegeben, die Meredith einst aufgestellt hatte und die niemals gebrochen worden war: Kein Buch verlässt jemals das Haus.
Und jene wenigen, die den Büchern ihre Aufwartung machen durften, hatte Meredith stets persönlich ausgewählt. Die Liste der Interessenten war stets lang gewesen. Die der Gäste hingegen kurz, denn zu Lebzeiten hatte der alte Mann seinen Büchern gegenüber eine derart beschützende Haltung eingenommen, dass kein Unbefugter sich je zwischen die Regale von Meredith Hall gewagt hatte.
Sein Tod aber änderte alles.
Schon während der letzten Jahre, seit klar geworden war, dass das Ende des Herrn von New Alexandria absehbar war, hatten Universitäten, Museen und Sammler sich bemüht, sich mit Meredith und seinem Nachlassverwalter gut zu stellen. In der Hoffnung, sein Wohlwollen zu erlangen, hatten sie sich dazu hinreißen lassen, ihm wertvolle Bücher zu übereignen, um nach seinem Tod umso mehr davon zurückzubekommen. Ein Buch nach dem anderen hatte Meredith in seine riesige Bibliothek eingereiht, diese immer weiter vergrößert und sich zuletzt mehr als zehn Jahre lang geweigert zu sterben.
Nun aber lag er, seinem letzten Willen entsprechend, nach dreiundneunzig Jahren eines erfüllten Lebens zwischen Buchdeckeln, aufgebahrt in der Bibliothek von Meredith Hall.
Seine bleichen Wangen wirkten dabei noch hohler als zu Lebzeiten. Das weiße Haar streng nach hinten gelegt, das funkelnde Monokel unter der strengen Braue, wirkte er selbst jetzt, da er die ewige Ruhe gefunden hatte, noch eigentümlich angespannt.
In seinem Testament hatte er akribisch verfügt, wer welches Buch bekommen sollte. Bis auf einen kleinen Teil deckte diese Verfügung den gesamten Buchbestand ab. Die wenigen
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