Der letzte Schattenschnitzer
glauben kann, dann waren die Flammen aller vergangenen Feuer kalt im Vergleich zu denen, die bald lodern werden. Und das wisst ihr ebenso gut wie ich …«
John Dee
ALCHIMIA UMBRARUM (1604)
Kapitel II
(Seite 32 ff.)
VOM WESEN DER SCHATTEN
D en meisten Menschen wird ihr Schatten, so wie im ersten Kapitel dieser Schrift beschrieben, nicht mehr scheinen als ihr eigenes schemenhaftes Abbild, das einzig dem Lichte und den Gesetzen der Logik folgt. Da aber du, als Leser dieses Buches, kaum zu jener Mehrheit gehören wirst, will ich es wagen, dich mit der Wahrheit über deinen vermeintlichen Schemen zu konfrontieren, der doch weit mehr ist als ein bloßes Bild deiner selbst …
Von der ersten Stunde seines Daseins auf Erden begleitet der Schatten seinen Herrn. Was immer der eine erlebt, muss auch der andere erdulden. Keinem Menschen, der nicht in Kenntnis der großen Geheimnisse der Magie lebt, ist es jemals gelungen, seinen eigenen Schatten zu täuschen oder zu belügen. Kraft ihres scheinbar untrennbaren Bandes weiß der Schatten um die Gefühle und Gedanken dessen, der ihn wirft. Er liest in ihm wie in einem offenen Buche. Und dabei sammelt er alles, was seinem Herrn widerfährt. Selbst wenn dieser vergisst, wird doch sein Schatten sich am Ende seines Lebens an alles erinnern, das jemals im Lauf dieses Lebens geschah. Nach dem Tode des Herrn wird er sich aufmachen, all das mit den anderen seiner Art zu teilen. Denn jeder Schatten, der existiert, ist eine Mischung aus allen Schatten, die jemals existierten, und sein wahres Wesen gewinnt er an einem Ort, der dem Menschen auf immer verborgen ist. Diesen Ort nennen die Eingeweihten Limbus . Ich gedenke auf ihn zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal näher einzugehen. In jenen Ort geht der Schatten mit dem Tode seines Herrn ein. Sobald die Seele eines Menschen den Körper verlässt, verlässt ihn auch sein Schatten. Solange sein Herr aber lebt, ist der Schatten an ihn gebunden und teilt in dieser Zeit auch sein Wissen, Denken und Fühlen. Und wann immer ein Schatten sich mit einem anderen mischt, sie einander durchdringen, fließt das Wissen des einen in den anderen hinüber. Was Dichter, Denker und Maler Inspiration nennen, ist nicht mehr, als zur richtigen Zeit im richtigen Schatten zu weilen. Denn durch diese dunklen Begleiter fließt alles, was Gedanke, Wissen und Wahrheit ist. Will einer wirklich ein Geheimnis bewahren, so muss er erst seinen Schatten zügeln lernen, dass dieser nicht weiterträgt, was sein Herr zu verbergen trachtet.
Und ist die Grenze zwischen Schatten und Mensch von Natur aus nur nach einer Seite durchlässig, so gibt es doch auch solche, die mit ihrem Schatten zu reden vermögen. Und diese wenigen heißt man in den Kreisen der Magier Schattenkundige . Zwei Schulen gibt es, von denen die ältere dieser Tage beinahe ausgestorben ist. Statt der alten Schattenschnitzer sind es heute jene, die sich Schattensprecher nennen, die im Bündnis mit der Kirche die alten Künste und die Sprache der Schatten bewahren.
Diese Sprache zu beherrschen ist vonnöten, wenn man seinen Schatten formen oder beherrschen will. Die meisten Eingeweihten dieser Sprache befleißigen sich ihrer im Geheimen. Denn einen, der mit seinem Schatten spricht, erachten die Menschen heute wie ehedem als verrückt und verwechseln, wie so oft, Wissen mit Wahnsinn.
Dabei öffnet die hohe Kunst der Schattenmagie dem Eingeweihten ungeahnte Räume. Großmeister wissen gar ihren Schatten besser zu nutzen als ihren eigenen Leib. Ihre Schatten unterstehen allein ihrem Willen und mischen sich nicht mit denen gewöhnlicher Sterblicher. Großmeister wie diese, die wahrhaft mächtig sind in den Belangen des Schattensprechens, gibt es nur wenige. Sie verstehen das Wissen der Menschen aus ihnen herauszuziehen und die Greuel der Folter, wie sie der spanische Dominikaner Thomas de Torquemada für den Leib des Menschen niederschrieb, selbst noch auf seinen Schatten anzuwenden …
2.
Habent sua fata libelli.
(Bücher haben ihre Schicksale.)
Lateinisches Sprichwort
A ls Edward Lysander Meredith im seligen Alter von dreiundneunzig Jahren in seinem Londoner Stadtsitz entschlief, rieben sich die Leiter der namhaftesten Bibliotheken Europas bereits die Hände. Denn jenes Gebäude im vornehmen East End war weniger ein Wohnhaus als vielmehr eine literarische Schatzkammer. Abgesehen von seinem Keller beherbergte Meredith Hall auf über drei Stockwerken in endlosen Fluren und zig Zimmern
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