Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der letzte Schattenschnitzer

Der letzte Schattenschnitzer

Titel: Der letzte Schattenschnitzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian von Aster
Vom Netzwerk:
BEHERRSCHEN DER LEIBER DER TOTEN
     
    V ermagst du kraft seiner Sprache deinen Schatten erst unter deinen Willen zu zwingen und dein Wesen in ihm zu verbergen, so wirst du – so du im Schutze deines Schattens gereist bist und die Welt in ihm durchstreift hast – es wagen können, dich der Toten zu bedienen.
    Denn eines jeden Leichnams Schatten ist leer wie sein Körper, und so ist ein jeder, der in der Lage ist, sich des Toten Schatten zu bedienen, auch fähig, kraft desselben in den entseelten Leib zu dringen.
    Stelle dir zunächst den Körper vor wie ein Gefäß, in das du, es ganz zu besitzen, eindringen musst. Hierfür kannst du dir Nase, Ohren, Mund oder After, kurz jede Öffnung des Leibes erwählen. In des Leichnams Innerem lasse deinen Schatten sich ausbreiten, bis er ihm in die Spitzen seiner Finger und Zehen dringt.
    Ist dir dies gelungen, so musst du beginnen, den Körper als eine Art von Apparatur zu betrachten, die den gleichen Prinzipien der Mechanik unterliegt, wie Archimedes sie uns lehrte. Verlagere deine Kraft in jene Teile des Leichnams, die du zu bewegen gedenkst, und schnell wirst du erste Erfolge verspüren. Mit Hilfe des Schattens, über den du Kontrolle hast, wirst du in die Lage versetzt, den toten Leib zu steuern. Ihn aber ganz zu beherrschen wird dich einiges an Übung kosten, so dass du, wenn du ihn nicht im Kühlen zu lagern weißt, manchen Toten verschleißen wirst, bevor du mit Hilfe deines Schattens einen von ihnen ganz beherrschst. Nach außen hin wird es hernach scheinen, als handelte der Verstorbene aus eigenem Antrieb und wäre noch immer am Leben. Obschon Kraft und Flüssigkeit der Bewegung denen eines lebenden Menschen nachstehen und dem aufmerksamen Beobachter das fehlende Leben im Auge des Schergen nicht entgeht, überkommt doch der vom Schatten beherrschte Leib die Gebrechen des Körpers, so dass ihm Schmerz, Verwundung und Leiden fremd sind und ihn in seinem Handeln nicht einzuschränken vermögen.
    Das einzige verlässliche Merkmal, einen von Schatten beherrschten Toten zu erkennen, ist, dass sein eigener Schatten – wie der eines jeden Toten – leer ist. Dies aber ist wiederum nur von jenem zu erkennen, dem die Gesetze der Schatten bekannt sind.
    Nach allen bisherigen Versuchen scheint es nicht möglich, eine lebende Seele mit Hilfe des Schattens aus ihrem Körper zu verdrängen, um ihn an ihrer statt zu übernehmen. Dies wäre die Krönung der Schattenkunst und würde ihren Meistern, wäre es möglich, alle Türen dieser Welt öffnen. Könnten sie doch daraufhin in Päpste, Herrscher und Gelehrte schlüpfen, in deren Leibern sie die Welt fortan auf mehr als eine Weise zu beherrschen vermöchten. Allein, hiervor hat der Herrgott einen Riegel geschoben, denn dies ist die Grenze aller Schattenkunst.
    Und dies ist recht und wohl bedacht von den Mächten hinter den Dingen.

3.
    Eines Schattens Traum ist der Mensch.
    Pindar, griechischer Dichter
    (518 v. Chr. - 446 v. Chr.)
     
    A ls Jonas Mandelbrodt beinahe vier Jahre zählte, waren wir endgültig zu einer Einheit verschmolzen, die mehr war als bloß ein Mensch und sein Schatten. Der Knabe war mein Herr, ich sein Lehrer und Argos der Wächter über die kostbaren Stunden unseres gemeinsamen Lehrens und Lernens.
    Längst hatte ich begonnen, dem Kind abseits eurer Sprache und eures Verstehens die Geheimnisse der Schatten nahezubringen. Schritt um Schritt brachte ich meinem Herrn alles bei, was Generationen von Magiern und Alchemisten uns abgerungen hatten. So, wie es einst George Ripley gelehrt und John Dee in dem großen Buch niedergeschrieben hatte. Ich zeigte meinem Herrn nicht weniger als die Wege der Schatten, wie sie seit jeher das Schicksal der Welt bestimmen. Und bald schon hatte Jonas Mandelbrodt mehr verstanden, als viele von euch es in ihrem ganzen Leben tun. Ich hatte ihm Wahrheiten und Wissen in einem Maß offenbart, das den meisten von euch die Schädel schmerzen ließe, und dabei hatte ich ihn stets ermahnt, niemanden wissen zu lassen, was er wusste, konnte und von wem er es gelernt hatte.
    Seine Mutter freilich wusste nichts von alldem. Sie ahnte nicht, dass Welten im Begriff standen, sich in ihrem Kind zu öffnen. Welten, die zuvor allein von großen Gelehrten und Zauberkundigen beschritten worden waren. Sie ahnte nicht, dass Jonas bereits zu diesem Zeitpunkt mehr von der Welt wusste, als sie selbst jemals begreifen würde.
    Der kleine zerbrechliche Körper meines Herrn schien dabei noch immer der eines

Weitere Kostenlose Bücher