Der letzte Streich des Sherlock Holmes, Bd. 4
Herzen ging. Wie die meisten Menschen, die ein einsames Leben führen, war sie zuerst scheu, ging aber schließlich in äußerste Mitteilsamkeit über. Sie erzählte uns viele Einzelheiten über ihren Schwager, den Steward, schweifte dann zu ihren früheren Untermietern ab, den Medizinstudenten, und machte uns mit einer langen Liste von deren Missetaten bekannt, nannte uns ihre Namen und die Hospitäler, in denen sie arbeiteten. Holmes hörte sich hingegeben alles an und warf nur von Zeit zu Zeit eine Frage in den Redestrom.
»Was ihre zweite Schwester, Sarah, angeht«, sagte er, »wundere ich mich, daß Sie mit ihr keinen gemeinsamen Haushalt führen, da sie doch beide unverheiratet sind.«
»Ach, Sie kennen Sarahs Temperament nicht, sonst würden Sie sich nicht wundern. Ich habe es versucht, als ich nach Croydon umzog, und wir sind bis vor zwei Monaten zusammengeblieben, dann ging es nicht mehr. Ich möchte kein Wort gegen meine leibliche Schwester sagen, aber sie war immer schon vorlaut und schwer zufriedenzustellen, unsere Sarah.«
»Sie deuteten an, sie hätte sich mit Ihrer Liverpooler Verwandtschaft gestritten.«
»Ja, und dabei waren sie einmal die besten Freunde. Dann ist sie da hinauf gezogen, um ih nen immer nahe zu sein. Und jetzt findet sie kein Wort mehr für Jim Browner, das ihr hart genug wäre. Die sechs Monate, die sie hier gewesen ist, sprach sie von nichts anderem als von seinem Trinken und wie er sich aufführt. Er hat sie, nehme ich an, erwischt, als sie die Nase in seine Angelegenheiten steckte, und ihr die Meinung gesagt. Und damit hat dann alles angefangen.«
»Ich danke Ihnen, Miss Cushing«, sagte Holmes, stand auf und verbeugte sich. »Sagten Sie nicht, Ihre Schwester Sarah wohnt in Wallington, New Street? Guten Tag, und es tut mir sehr leid, daß Sie mit einem Fall belästigt wurden, mit dem Sie, wie Sie meinen, nicht das geringste zu tun haben.«
Als wir aus der Tür traten, fuhr eine Droschke vorbei, und Holmes hielt sie an.
»Wie weit ist es bis Wallington?« fragte er.
»Nur ungefähr eine Meile, Sir.«
»Sehr gut. Springen Sie hinein, Watson. Wir müssen das Eisen schmieden, solange es noch heiß ist. So einfach der Fall auch scheint, es gibt in ihm einige sehr lehrreiche Einzelheiten. Halten Sie vor dem Telegraphenbüro, wenn wir vorbeikommen, Kutscher.«
Holmes sandte ein kurzes Telegramm ab und lümmelte dann für den Rest der Fahrt in der Droschke, den Hut über das Gesicht geschoben, um das Gesicht vor der Sonne zu schützen. Unser Kutscher hielt vor einem Haus, das dem nicht unähnlich war, das wir soeben verlassen hatten. Mein Gefährte befahl ihm, zu warten, und er hatte schon die Hand am Türklopfer, als die Tür geöffnet wurde und ein würdevoll aussehender junger Herr in Schwarz mit einem stark glänzenden Hut auf der Treppe erschien.
»Treffe ich Miss Cushing zu Hause an?« fragte Holmes.
»Miss Sarah Cushing ist sehr krank«, sagte er. »Seit gestern leidet sie an sehr ernsthaften Hirnsymptomen. Als ihr Arzt kann ich nicht die Verantwortung übernehmen, daß sie jemand besucht. Ich möchte Ihnen vorschlagen, es in zehn Tagen noch einmal zu versuchen.« Er streifte sich die Handschuhe über, schloß die Tür und marschierte die Straße hinunter.
»Na, wenn es nicht geht, dann geht es eben nicht«, sagte Holmes fröhlich.
»Vielleicht hätte Sie Ihnen nicht viel erzählen können oder wollen.«
»Ich wollte nicht, daß sie mir etwas erzählt. Ich wollte nur einen Blick auf sie werfen. Aber wie dem auch sei, ich denke, daß ich alles erfahren habe, was ich wissen mußte. Kutscher, fahren Sie uns in ein anständiges Hotel, wo man einen guten Lunch bekommen kann. Danach werden wir Freund Lestrade im Polizeirevier einen kurzen Besuch abstatten.«
Wir aßen uns durch eine angenehme kleine Mahlzeit. Holmes sprach dabei von nichts anderem als von Geigen und erzählte mit großer Begeisterung, wie er seine Stradivari, die mindestens fünfhundert Guinea wert war, bei einem jüdischen Pfandleiher in der Tottenham Court Road für fünfundfünfzig Shilling erworben hatte. Von da kam er auf Paganini zu sprechen, und wir saßen eine Stunde bei einer Flasche Claret, während er Anekdote um Anekdote über den berühmten Mann zum besten gab. Der Nachmittag war schon weit vorgeschritten, und die Glut hatte sich in ein angenehmes Glühen verwandelt, als wir uns vorm Polizeirevier einfanden. Lestrade erwartete
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