Der letzte Streich des Sherlock Holmes, Bd. 4
also einen gewichtigen Grund besitzen, Miss Cushing das Paket zu senden. Aber welche Art Grund? Er muß ihr haben mitteilen wollen, daß die Tat geschehen ist; oder vielleicht wollte er ihr Schmerz bereiten. Aber in diesen Fällen weiß sie, wer es ist. Weiß sie es? Ich bezweifle das. Wenn sie es wüßte, wozu hat sie dann die Polizei alarmiert? Sie hätte die Ohren vergraben können, und niemand würde davon erfahren haben. Das hätte sie getan, wenn sie den Verbrecher hätte decken wollen. Und wenn sie ihn nicht decken wollte, würde sie seinen Namen preisgeben. Hier gibt es ein Knäuel, das entwirrt werden will.«
Er hatte mit hoher Stimme und schnell gesprochen und dabei leeren Blicks über den Gartenzaun hingestarrt. Aber dann sprang er entschlossen auf und schritt auf das Haus zu.
»Ich muß Miss Cushing ein paar Fragen stellen«, sagte er.
»In diesem Fall kann ich Sie wohl verlassen«, sagte Lestrade, »ich habe noch eine andere kleine Sache auf Lager. Ich denke, ich kann von Miss Cushing nichts Neues mehr erfahren. Wenn Sie mich brauchen, ich bin auf dem Polizeirevier.«
»Wir schauen mal rein, wenn wir zum Zug gehen«, antwortete Holmes.
Einen Augenblick später standen mein Freund und ich wieder im Vorderzimmer, wo die leidenschaftslose Dame noch immer ruhig an ihrem Sofaschoner arbeitete. Sie ließ ihn in den Schoß sin ken, als wir eintraten, und sah uns aus offenen, fragenden blauen Augen an.
»Ich bin davon überzeugt, Sir«, sagte sie, »daß die Angelegenheit auf einem Irrtum beruht und daß das Paket nicht mir zugedacht war. Das habe ich schon mehrere Male dem Herrn von Scotland Yard gesagt, aber er lacht einfach über mich. Ich habe in der Welt keinen einzigen Feind, soviel ich weiß; warum sollte mir also jemand einen solchen Streich spielen?«
»Ich bin auf dem Weg, zu derselben Ansicht zu kommen, Miss Cushing«, sagte Holmes und nahm neben ihr Platz. »Ich denke, es ist mehr als wahrscheinlich…« Er machte eine Pause, und ich war erstaunt, als ich zufällig sah, daß er das Profil der Dame mit besonderer Eindringlichkeit betrachtete. Überraschung und Befriedigung zugleich zeigten sich für einen Moment auf seinem Gesicht. Doch als sie sich ihm zuwandte, um den Grund für sein Schweigen zu erfahren, erschien er wieder zurückhaltend wie immer. Ich betrachtete nun selber genau ihr glattes, ergrautes Haar, ihr säuberliches Häubchen, ihre kleinen vergoldeten Ohrringe, ihre sanften Züge; aber ich entdeckte nichts, das die offensichtliche Aufregung meines Gefährten hätte erklären können.
»Ich möchte nur noch einiges fragen…«
»Oh, ich habe die Fragerei satt!« rief Miss Cu
shing ungeduldig.
»Sie haben, glaube ich, zwei Schwestern.«
»Woher wollen Sie das denn wissen?«
»In dem Augenblick, da ich das Zimmer betrat, sah ich auf dem Kaminsims das Porträt einer Gruppe von drei Damen, von denen die eine zweifellos Sie selber sind, während die anderen beiden Ihnen so sehr ähneln, daß es in Bezug auf die Verwandtschaft keine Zweifel geben kann.«
»Ja, Sie haben ganz recht. Es sind meine Schwestern, Sarah und Mary.«
»Und hier neben meinem Ellbogen steht noch ein Porträt, aufgenommen in Liverpool, von Ihrer jüngeren Schwester gemeinsam mit einem Mann, der, nach seiner Uniform zu schließen, Steward ist. Mir fällt auf, daß sie zu dieser Zeit noch unverheiratet war.«
»Ihnen fällt schnell etwas auf.«
»Das ist mein Beruf.«
»Nun, Sie haben ganz recht. Aber ein paar Tage später war sie mit Mr. Browner verheiratet. Als die Aufnahme gemacht wurde, befuhr er die Südamerika-Route, aber er liebte seine Frau so sehr, daß er es nicht über sich bringen konnte, sie für lange Zeit allein zu lassen, deshalb ist er auf die Liverpool-London-Linie umgestiegen.«
»Ah, vielleicht auf die ›Conquerer‹?«
»Nein, auf die ›May Day‹, nach dem, was ich zuletzt erfahren habe. Jim war einmal hier, um mich zu besuchen. Das war, ehe er sein Versprechen brach. Später hat er dann immer getrunken, wenn er an Land war, und ein bißchen Alkohol schon machte ihn stockbetrunken. Ach, das war ein schlimmer Tag, als er wieder ein Glas in die Hand nahm! Zuerst legte er sich mit mir an, dann begann er Streit mit Sarah, und jetzt, da Mary aufgehört hat zu schreiben, wissen wir nicht, wie es um die beiden steht.«
Es war offensichtlich, daß Miss Cushing ein Thema angerührt hatte, das ihr sehr zu
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