Der letzte Streich des Sherlock Holmes, Bd. 4
vorliegen, als ich, wie Sie sich vielleicht erinnern, plötzlich zu reden aufhörte. Ich hatte nämlich etwas gesehen, das mich überraschte. Es war etwas, das das Feld unserer Untersuchungen beträchtlich einengte.
Als Mann der Medizin wissen Sie sicherlich, Watson, daß kein Körperteil so unterschiedlich gestaltet ist wie das Ohr. Es gilt als Gesetz: jedes Ohr ist einmalig und unterscheidet sich von allen anderen. Im ›Anthropological Journal‹ vom letzten Jahr finden Sie darüber zwei Monographien aus meiner Feder. So hatte ich denn auch die Ohren in dem Pappkarton mit den Augen eines Fachmanns untersucht und sorgfältig ihre anatomischen Besonderheiten aufgenommen. Und nun stellen Sie sich mein Erstaunen vor, als ich beim Betrachten von Miss Cushing feststellte, daß ihr Ohr genau mit dem weiblichen Ohr übereinstimmte, das ich eben erst geprüft hatte. Ein Zufall war gänzlich ausgeschlossen. Dieselbe Verkürzung der Steckmuschel, dasselbe weitgeschwungene Ohrläppchen, dieselbe Windung des inneren Knorpels. In allem Wesentlichen war es ein gleiches Ohr.
Natürlich begriff ich sofort die enorme Wichtigkeit der Beobachtung. Offensichtlich war das Opfer eine Blutsverwandte und wahrscheinlich eine sehr nahe. Ich fing also an, mit ihr über ihre Familie zu sprechen, und Sie erinnern sich, daß sie uns einige äußerst wertvolle Einzelheiten mitteilte.
Vor allem, daß ihre Schwester Sarah heißt und daß sie bis vor kurzem unter derselben Adresse gewohnt hat. So wurde erklärlich, wie der Irrtum entstehen konnte und für wen das Paket eigentlich bestimmt war. Dann hörten wir von dem Steward, der mit der anderen Schwester verheiratet ist, und erfuhren, er habe mit Miss Sarah einmal auf so vertrautem Fuß gestanden, daß sie nach Liverpool zog, um den Browners nahe zu sein, und ein Streit habe sie später auseinandergebracht. Dieser Streit hatte für einige Monate alle Beziehungen zum Erliegen gebracht, so daß Browner, falls er ein Paket an Miss Sarah abschikken wollte, es an die alte Adresse gerichtet haben würde.
Plötzlich lag die Angelegenheit wundervoll glatt vor uns. Wir hatten von der Existenz dieses Steward erfahren, eines impulsiven Mannes mit heftigen Leidenschaften – Sie erinnern sich, daß er, um seiner Frau näher zu sein, eine ausgezeichnete Stellung aufgab –, der zudem zeitweise ein schwerer Trinker ist. So erhielten wir Grund zu der Annahme, daß seine Frau ermordet worden war, und gleichzeitig ein Mann – anscheinend ein Seemann. Natürlich drängte sich sofort Eifersucht als Motiv für das Verbrechen auf. Und warum hat er den Beweis der Tat an Miss Sarah Cushing geschickt? Wahrscheinlich, weil sie während ihres Aufenthalts in Liverpool einiges dazu beigetragen hat, die Tragödie in Gang zu setzen. Sie werden feststellen, daß die Schiffe der Linie, bei der der Mann arbeitet, in Belfast, in Dublin und in Waterford anlegen, so daß – angenommen, Browner hat die Tat begangen und sich gleich auf sein Schiff, die ›May Day‹, begeben – Belfast der erste Ort wäre, wo er sein fürchterliches Paket aufgeben konnte.
Eine zweite Lösung war in diesem Stadium auch möglich, und obwohl ich sie für sehr unwahrscheinlich hielt, war ich entschlossen, sie zu verfolgen. Ein erfolgloser Liebhaber hätte Mr. und Mrs. Browner umgebracht haben können, und das männliche Ohr wäre eins von dem Ehemann gewesen. Gegen diese Theorie sprachen viele Einwände, aber sie war bedenkenswert. Deshalb schickte ich ein Telegramm an meinen Freund Algar von der Liverpooler Polizei und bat ihn, zu erkunden, ob Mrs. Browner daheim und Browner mit der ›May Day‹ in See gestochen sei. Dann fuhren wir nach Wallington, um Miss Sarah einen Besuch abzustatten.
Vor allem war ich neugierig, inwieweit sich die Ohrenform der Familie bei ihr wiederfinden würde. Außerdem hätte sie uns natürlich auch wichtige Informationen geben können. Aber ich hatte nicht viel Zuversicht, daß sie es tun würde. Sie mußte am Tag zuvor von dem Ereignis gehört haben, da ganz Croydon über nichts anderes sprach, und nur sie konnte wissen, an wen das Paket eigentlich gerichtet war. Wenn sie willens gewesen wäre, dem Gesetz zu helfen, hätte sie schon mit der Polizei Verbindung aufgenommen. Doch es war unsere Pflicht, sie aufzusuchen, und so fuhren wir hin. Dort hörten wir, daß die Nachricht von dem eingegangenen Paket – denn ihre Krankheit begann am selben Tag – eine solche Wirkung auf sie gehabt hat,
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