Der letzte Streich des Sherlock Holmes, Bd. 4
Mann von vierzig, verheiratet, hat fünf Kinder. Ein stiller, grämlicher Mensch, besitzt aber, insgesamt gesehen, einen exzellenten Ruf im öffentlichen Dienst. Er ist nicht beliebt bei seinen Kollegen, aber ein harter Arbeiter. Nach seiner eigenen Darstellung, die nur durch die Aussage seiner Frau bestätigt wird, ist er nach den Dienststunden den ganzen Montagabend zu Hause gewesen, und sein Schlüssel hing an der Uhrkette, an der er ihn immer trägt.«
»Erzähl uns von Cadogan West.«
»Er war zehn Jahre dort beschäftigt und hat gute Arbeit geleistet. Er stand im Ruf eines hitzköpfigen und ungestümen, aber redlichen, aufrichtigen Mannes. Wir haben nichts, das gegen ihn spräche. Er arbeitete in Sidney Johnsons Nähe. Seine Pflichten brachten ihn in tägliche Berührung mit den Plänen. Kein anderer bekam sie in die Hand.«
»Wer hat die Pläne an dem Abend eingeschlossen?«
»Mr. Sidney Johnson, der Bürovorsteher.«
»Nun, es ist sicher vollkommen klar, wer sie an sich genommen hat. Sie wurden bei dem Angestellten Cadogan West gefunden. Das scheint endgültig, nicht wahr?«
»So ist es, Sherlock, und doch bleibt so viel ungeklärt. Vor allem, weshalb hat er sie entwendet?«
»Ich nehme an, sie sind wertvoll.«
»Er hätte für sie leicht mehrere Tausend kriegen können.«
»Kannst du dir vorstellen, daß er sie aus einem anderen Grund nach London gebracht hat, außer um sie zu verkaufen?«
»Nein, das kann ich nicht.«
»Dann müssen wir das als unsere Arbeitshypothese annehmen. Der junge West steckte die Papiere ein. Das konnte er nur tun, wenn er einen Nachschlüssel besaß…«
»Mehrere Nachschlüssel. Er mußte ja auch das Haus und den Raum öffnen.«
»Er besaß also mehrere Nachschlüssel. Er fuhr mit den Dokumenten nach London, um das Geheimnis zu verkaufen, aber zweifellos stand es auch in seiner Absicht, daß die Pläne am nächsten Morgen, ehe sie vermißt wurden, wieder im Safe lagen. Jedoch fand er in London bei dem verräterischen Unterfangen sein Ende.«
»Wie?«
»Wir werden annehmen, daß er sich auf dem Rückweg nach Woolwich befand, als man ihn tötete und aus dem Abteil warf.«
»Aldgate, wo man die Leiche fand, liegt ziemlich weit hinter der Station nach London Bridge, von wo er nach Woolwich hätte abfahren müssen.«
»Viele Umstände sind vorstellbar, deretwegen er über London Bridge hinausgefahren sein könnte. Vielleicht war jemand im Wagen, mit dem er in ein Gespräch vertieft war, das ihn völlig in Anspruch nahm. Das Gespräch ging in gewalttätige Handlungen über, die ihn das Leben kosteten. Möglicherweise versuchte er auszusteigen, fiel hinaus und fand so sein Ende. Der andere schloß die Tür. Es herrschte dicker Nebel, in dem nichts zu erkennen war.«
»Bei unserem gegenwärtigen Wissensstand könnte man keine bessere Erklärung geben; und doch, bedenke, Sherlock, wieviel du unberührt gelassen hast. Wir werden aus Gründen der Beweisführung unterstellen, daß der junge Cadogan West entschlossen war, die Papiere nach London zu schaffen. Dann hätte er natürlich wegen der Verabredung mit einem ausländischen Agenten den Abend freihalten müssen. Statt dessen besorgte er zwei Theaterkarten, begleitete seine Verlobte halbwegs dorthin und verschwand plötzlich.«
»Eine falsche Spur«, sagte Lestrade, der mit ziemlicher Ungeduld der Unterhaltung lauschend dasaß.
»Eine seltsame falsche Spur. Das war Einwand Nummer eins. Numero zwei: Wir unterstellen einmal, daß er London erreichte und den Agenten trifft. Er muß die Papiere vor dem Morgen zurückbringen, oder der Verlust wird entdeckt. Zehn Dokumente hat er mitgenommen. Nur sieben befinden sich in seinen Taschen. Was ist mit den anderen geschehen? Er wird sie bestimmt nicht aus freien Stücken aus der Hand gegeben haben. Dann, wiederum, wo ist der Lohn für den Verrat? Man hätte erwarten dürfen, in seiner Tasche viel Geld zu finden.«
»Für mich ist alles sonnenklar«, sagte Lestrade, »es gibt nicht den geringsten Zweifel. Er nahm die Papiere, um sie zu verkaufen. Er traf den Agenten. Sie konnten sich über den Preis nicht einigen. Er machte sich auf den Weg nach Hause, der Agent begleitete ihn. Im Zug ermordete ihn der Agent, steckte die wichtigsten Papiere ein und warf die Leiche aus dem Zug. So wäre alles erklärt, oder nicht?«
»Warum besaß er keine Fahrkarte?«
»Die Fahrkarte hätte verraten,
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