Der letzte Streich des Sherlock Holmes, Bd. 4
mitzunehmen. Die Nachricht, daß die alte Frau inzwischen gestorben sei, rief keine Überraschung hervor.
Der Arzt war unser nächstes Ziel. Er war gerufen worden, hatte die an Altersschwäche sterbende Frau besucht, sie sterben sehen und den amtlichen Totenschein ausgestellt. »Ich versichere Ihnen, der Fall war völlig normal, und es gab keine Möglichkeit für falsches Spiel«, sagte er. Nichts in dem Haus war ihm verdächtig vorgekommen, außer daß er es merkwürdig gefunden hatte, daß die Leute, in Anbetracht der Schicht, der sie angehörten, ohne Dienstpersonal lebten. Bis hierher und nicht weiter ging der Arzt.
Schließlich fuhren wir noch zu Scotland Yard. Dort hatte es wegen des Haftbefehls formelle Schwierigkeiten gegeben. Eine Verzögerung war unvermeidlich. Die Unterschrift vom zuständigen höchsten Beamten war nicht vor dem nächsten Morgen zu erwarten. Wenn Holmes gegen neun Uhr vorsprechen wolle, könne er zusammen mit Lestrade zugegen sein, wenn der Befehl ausgestellt würde. So endete der Tag. Nur unser Freund, der Sergeant, kam kurz vor Mitternacht noch vorbei, um uns zu melden, daß er hinter einigen Fenstern des großen dunklen Hauses flakkernde Lichter gesehen habe, aber keiner sei aus dem Haus gegangen, und niemand habe es betreten. Wir konnten nur um Geduld beten und den Morgen abwarten.
Sherlock Holmes war für eine Konversation zu gereizt und zu unruhig für den Schlaf. Als ich ihn verließ, rauchte er heftig, die schweren dunklen Augenbrauen waren zusammengezogen, mit nervösen Fingern klopfte er auf die Sessellehnen, und im Kopf wälzte er alle möglichen Lösungen des verwickelten Falls. Mehrere Male hörte ich, wie er im Haus umhergeisterte. Schließlich, es war schon Morgen, mich hatte man soeben geweckt, platzte er in mein Zimmer. Er war im Schlafrock, aber sein blasses, hohläugiges Gesicht sagte mir, daß er eine schlaflose Nacht hinter sich gebracht hatte.
»Wann sollte das Begräbnis sein? Um acht, war’s nicht so?« fragte er aufgeregt. »Jetzt ist es sieben Uhr zwanzig. Guter Himmel, Watson, was ist los mit meinem Verstand, den Gott mir gab. Schnell, Mann, schnell. Es geht um Leben oder Tod, und es steht hundert zu eins, hundert für Tod, eins für das Leben. Ich werde es mir nie verzeihen, niemals, wenn wir zu spät kommen!«
Es dauerte nicht einmal fünf Minuten, da flogen wir schon in einem Hansom durch die Baker Street. Und doch war es schon fünfundzwanzig Minuten vor acht, als wir Big Ben passierten, und es schlug acht, als wir die Brixton Road entlangjagten. Aber andere waren genauso zu spät dran wie wir. Zehn Minuten nach dem Termin stand der Leichenwagen noch immer vor der Haustür, und im selben Augenblick, da unser schäumendes Roß zum Halten gebracht war, erschien der Sarg, von drei Männern getragen, auf der Schwelle. Holmes sprang vor und versperrte ihnen den Weg.
»Tragen Sie ihn zurück!« rief er und hielt dem vordersten Träger die Hand vor die Brust. »Tragen Sie ihn sofort zurück!«
»Was, zum Teufel, wollen Sie? Ich frage Sie noch einmal, wo ist Ihre Vollmacht?« schrie der wütende Peters; sein großes rotes Gesicht erglänzte über dem anderen Ende des Sarges.
»Die Vollmacht ist auf dem Wege. Der Sarg wird im Haus bleiben, bis sie eintrifft.«
Die Autorität in Holmes’ Stimme verfehlte ihre Wirkung auf die Träger nicht. Peters war plötzlich ins Haus verschwunden, und sie gehorchten der neuen Anordnung. »Schnell, Watson, schnell! Hier ist ein Schraubenzieher!« rief Holmes, als der Sarg wieder an seinen Platz auf dem Tisch gestellt war. »Und hier ist einer für Sie, lieber Mann! Einen Sovereign, wenn der Deckel in einer Minute gehoben ist! Fragen Sie nicht, arbeiten Sie weiter! So ist’s gut! Die andere Schraube! Und noch eine! Jetzt heben, alle zusammen! Er kommt! Er kommt! Ja, gut so!«
Mit vereinter Kraft hoben wir den Deckel an. Wir hatten es noch nicht ganz geschafft, als sich bereits ein betäubender, überwältigender Chloroformgeruch verbreitete. Ein Körper lag drin, der Kopf mit Watte umwunden, die von dem Narkotikum durchtränkt war. Holmes riß sie ab und legte das statuenhafte Gesicht einer hübschen und geistvollen Frau mittleren Alters bloß. Im nächsten Augenblick hatte er seinen Arm unter sie geschoben und sie in Sitzhaltung gehoben.
»Ist sie tot, Watson? Gibt es noch ein Lebenszeichen? Sicherlich sind wir nicht zu spät gekommen.«
Für eine halbe Stunde sah es
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